Wir sind doch Schwestern
denn Weihnachten nicht mit Ihrer Familie verbringen?«, meldete Katty sich in diesem Moment zu Wort. Gertrud wusste, dass ihre jüngste Schwester ganz besonders unter dem Tod der Mutter litt und sich deshalb umso mehr an den Rest der Familie klammerte.
Karl schaute sie an und schmunzelte.
»Meine Familie feiert Chanukka, das Lichterfest. Weißt du, was das ist?«
»Nein.«
»Das ist unser Weihnachten. Wir feiern die Wiedereinweihung des Tempels. Auch bei uns bekommen die Kinder Geschenke, man isst Krapfen und die Familie ist acht Tage lang zusammen. An jedem Tag wird eine Kerze mehr angezündet …«
Gertrud hörte nicht mehr zu. Ihr Magen drehte sich um, sie musste Tränen hinunterschlucken. Natürlich, warum war ihr das nicht eher klar gewesen. Liechtenstein. Ihr wurde heiß.
»Entschuldigt mich«, murmelte sie und stand auf. Sie ging ins Bad und begann zu weinen.
Ein Jude. Selbst ihr Vater würde diese Verbindung nicht dulden. Er würde sie nicht dulden können, verbesserte sie sich. Wenn er zuließ, dass seine Tochter Karl Liechtenstein heiratete, würde er am Niederrhein zum Gespött, weil er keinen besseren Schwiegersohn gefunden hatte. Schon um einen Protestanten zu heiraten, brauchte es Mut, aber ein Jude war ausgeschlossen. Könnte sie mit Karl weggehen, so wie er es vorgeschlagen hatte? Doch selbst dann wäre ihre Familie möglicherweise Repressalien ausgesetzt. Die Menschen hier waren rigoros gegen alle, die mit Juden Umgang hatten.
Die Xantener hatten schlechte Erfahrung gemacht mit den Juden. Vielleicht war es auch umgekehrt, wahrscheinlich sogar, dachte Gertrud. Jedenfalls hatte es vor etwa dreißig Jahren ein Ereignis gegeben, das die Xantener und die Bewohner der umliegenden Dörfer bis heute nicht losließ.
Im Sommer 1891 hatte man einen Fünfjährigen tot in der Scheune der Küppers aufgefunden. Zum ersten Mal fiel Gertrud der Name des Knaben auf: Johann Hegmann. Ob er ein Bruder von Franz und Heinrich gewesen war? Oder ein Cousin? Sie wusste es nicht. Die Geschichte vom Xantener Ritualmord war jedenfalls in Xanten, Empel und weit darüber hinaus jedem bekannt. Der Junge war ermordet worden. Seine Kehle war fein säuberlich durchtrennt, und nach allem, was der Arzt damals hatte feststellen können, war er ausgeblutet. In der Scheune war allerdings kaum Blut zu finden gewesen, weshalb die Xantener sehr bald davon ausgingen, er sei woanders ermordet worden und es handele sich um einen Ritualmord, wie man es schon häufiger im Deutschen Reich gehört hatte. Juden taten so etwas, hieß es zu der Zeit, sie schächteten Kinder wie Vieh. Es gab Zeugen im Mordfall Johann Hegmann. Einer sagte aus, er habe den kleinen Johann am Tag vor seinem Verschwinden beim Schächter der jüdischen Gemeinde, Adolf Buschhoff, gesehen. Eine Frau behauptete, sie habe die Frau des Schächters mit einem Sack zu ebenjener Scheune laufen sehen, in der der Junge später gefunden wurde. Alle katholischen Bürger Xantens wollten die Buschhoffs hinter Gittern sehen, aber die Staatsanwaltschaft ließ es nicht zu, mit der Begründung, es gebe keine handfesten Beweise.
Einige Wochen nach dem Mord brannte das Haus des Schächters, und bei anderen jüdischen Bürgern wurden Fensterscheiben eingeschmissen, einer wurde sogar auf offener Straße verprügelt. Aus Angst bat Adolf Buschhoff darum, in Haft genommen zu werden. Der Fall wurde von einem Kommissar aus Berlin untersucht, und als der Prozess stattfand, wurde der Angeklagte wegen Mangels an Beweisen freigesprochen.
Die Bürger in Xanten tobten, die Zeitungen der Region heizten die Stimmung an. Schließlich verließ die Familie Buschhoff die Stadt für immer und siedelte sich in Krefeld an. Aber in Xanten und Umgebung waren Juden seitdem nicht mehr erwünscht, und Frauen, die einen Juden heirateten, sowie ihre Familien wurden verachtet.
Gertrud versuchte, sich zu beruhigen, doch ihr kamen erneut die Tränen. Es war Karl gegenüber ungerecht, das wusste sie. Aber sie konnte das ihrem Vater nicht antun, er hatte es ohnehin schon schwer genug.
Gertrud ging zurück in den Speiseraum. Es war alles gesagt. Die Familie saß stumm am Tisch, jeder stocherte im Essen herum. Nicht einmal Karl hatte noch Lust, zu sprechen. Er aß schnell der Höflichkeit halber sein Brot zu Ende, empfahl sich und verließ das Haus.
Als Gertrud am nächsten Tag zum Hotel van Bebber kam, um sich zu erklären, war er bereits abgereist. Er hatte ihr eine kleine Notiz zurückgelassen. Darauf stand ein
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