Wir sind Gefangene
Politik, Massen, Revolution waren aus meinem Gedächtnis gewischt, nur die Minute galt noch. Wenn ich dösig durch die Stadt fuhr, tauchten alle früheren Dinge wie etwas weit Weggeschobenes, Gewesenes im Hirn auf und wurden Anlässe zu einem Witz oder einer saftigen Zote. Es schien ja auch immer das gleiche zu sein: Wer regierte, wußte man nicht recht, die Parolen der Sozialisten änderten sich täglich, das Leben schob sich gewissermaßen ewig hin und her, Versammlungen, Aufläufe, Schießereien und Putschgerüchte trieben einander.
Und ich? Ich war wirklich eine Privatperson und ein Säufer, sonst nichts. Der Sumpf hatte mich geschluckt. So verlief der März, und der April brachte die ersten wärmeren Tage.
XXIV
STÜCKWERK
Graf! Grafff!« schrillte Mariettas Stimme drunten auf. Abgehackt klang's. Jäh riß ich die Augen auf.
»Ja!« gab ich an und schwang mich hastig aus dem Bett. Widerwärtig, wenn man so aus dem Schlaf gerissen wird! Dösig schlüpfte ich in die Hose.
»Oskar Maria!« schrie Davringhausen hell-ironisch, und auf den Teppichen hörte ich dumpfe, schnelle Schritte. Die Tür ging auf, der Vorhang zerteilte sich.
»Na, kleines Ferkel! Na!? ... Rasch, rasch! Komm! ... Herr Tautz will dich sprechen! Telephon!« sagte Davringhausen und ging schon wieder. »Komm schnell, wir frühstücken schon. Kriegst nichts mehr!«
»Jaja, gleich, gleich! ... Sofort!« stieß ich schlafverwirrt heraus, knöpfte eilends meine Weste zu, warf die Joppe um und lief hinunter ans Telephon. »Ja, hier Graf! ... Was ist's denn?« fragte ich ziemlich mürrisch in den Sprechtrichter hinein.
»Mariechen! Besoffnes Scheusal, bist du da? ... Ja, hör mal, komm sofort in den Landtag zum Künstlerrat! ... Arbeit gibt's, Schwein!« hörte ich Tautz.
»Jaja, ich komm schon! ... Servus!« erwiderte ich, hing ab und ging frühstücken.
»Na, was macht die Politik? ... Bist du Minister geworden?« fragte Davringhausen lachend und schob eine Schnitte Butterbrot in den Mund. Alle sahen mich so gespannt spöttisch an.
»Da, da schau! ... Feiertag ist wieder einmal!« meinte der Holländer und schob mir die Münchner Neuesten Nachrichten hin.
»Räterepublik ist«, sagte Marietta kurz, und ich überflog die vorderste Seite der Zeitung. Eine riesige Kundgebung stand darauf, dicke Lettern waren drüber: »An das Volk in Bayern!«
»Mensch! Mensch?! Da geht's wild auf! Da muß ich sofort hinein!« stürzte ich heraus und las flugs weiter: »Die Entscheidung ist gefallen. Bayern ist Räterepublik. Das werktätige Volk ist Herr seines Geschicks.« So ging es weiter. Der heutige Palm-Montag - der 7. April - war zum Nationalfeiertag erhoben und die ganze Kundgebung vom revolutionären Zentralrat unterzeichnet. »Arschlöcher!« knurrte der Holländer. Ärgerlich war er. Ich freute mich heimlich und dachte, jetzt geht's dir auch dran, Bursche. Hurtig schluckte ich den dicken Kaffeerest hinunter und erhob mich. »Ich geh' mit«, entschloß sich Davringhausen, und wir gingen. Ich hatte es höchst pressant. Über die froststeifen Wiesen lief ich, daß mein Begleiter kaum nachkam. Wunderbar frühjahrsblau war der Himmel, erste Stare sangen, Flieger blinkten in der Sonne und keine Straßenbahn fuhr. Schweißtriefend kamen wir in der Stadt an. Im Landtag herrschte eine schwirrende Nervosität. Im Torgewölbe standen Soldaten und bewaffnete Zivilisten und schichteten Munition vor die Maschinengewehre. Es sah aus, als wolle man sich befestigen gegen kommende Angriffe. Niemand beachtete uns, jeder flitzte wichtig hinum und herum, Worte wie »Weiße Garden! München umzingelt! Noske-Truppen im Anmarsch!« flogen von Ohr zu Ohr. Gangauf und gangab liefen Menschen, verschwanden in den Sitzungssälen und kamen wieder heraus. Wir kamen in den Saal des Künstlerrates, der diesmal fast voll war. Bekannte und unbekannte Gesichter sah ich, Schorsch, Achenbach, Tautz, meinen Zimmerherrn, Wolfenstein, Georg Kaiser, Schwabinger Maler und Literaten. Stückgolds Stimme drang aus irgendeiner Gruppe. Auch hier war ein unablässiges Kommen und Gehen. Jeder musterte den eleganten Davringhausen mit mißtrauischen Blicken. »Bügelfaltenhengst«, hörte ich wen sagen.
»Mensch, du mußt jetzt mit mir! Ich bin Zensor beim Bayrischen Kurier !« sagte Achenbach und nach kurzen Worten ging ich mit ihm dorthin.
»Du bist grad die richtige Figur für diese bayrischen Pfaffen ... Die versuchen nämlich immer passive Resistenz«, meinte Achenbach auf der Straße halb
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