Wir sind Heldinnen: Aus dem unglaublichen Leben der Alleinerziehenden (German Edition)
Toms und Carstens darauf, von ihr angeklickt und in Erwägung gezogen zu werden. Das war eine Zeit raubende Angelegenheit. Erst musste man die Bildergalerien durchsehen, dann die Hobbys studieren, dann nach Kommentaren und Bemerkungen suchen, die auf einen gewissen Esprit hinweisen konnten. Wichtig war dabei auch: Dichtete hier jemand selbst oder hatte er heimlich ein Bonmot aus »Die schönsten deutschen Zitate« abgeschrieben? Wenn man da nicht aufpasste wie ein Schießhund, war man schnell mal auf einen vermeintlichen Poeten reingefallen, der dann in seinen E-Mails nur unter Mühen der deutschen Schriftsprache mächtig war.
Sie ging die Sache großflächig und systematisch an. Wenn schon, denn schon. Auf diversen Dating-Plattformen durchstöberte sie insgesamt 32 785 Männer zwischen 32 und 42, die im Umkreis von 50 km ihrer Postleitzahl wohnten. Sie wurde Suchprofi. Bald kannte sie die gängigsten Sprüche und üblichen Badehosenfotos. Auf den ersten Blick konnte sie die Sonderschüler von den Akademikern, die Künstler von den Bankern und die Sexbesessenen von den Klemmis unterscheiden. Sie klebte virtuelle Merkzettelchen auf virtuelle Karteikarten, legte virtuelle Top-Ten-Listen an und löschte sie verschämt wieder. Aber am Abend vor Silvester warf sie Stolz und Vorurteil über Bord und verschickte ihren ersten virtuellen Gruß. An Marc. Marc mit der eckigen Brille und dem kecken Grinsen. Marc mit den schwarzen Haaren und dem melancholischen Rilke-Gedicht.
Marc antwortete noch in derselben Nacht, bat freundlich um ein Bild und brauchte, nachdem sie eins per Anhang mitgeschickt hatte, nur zwei Minuten, um ihr zu gestehen, dass sie »rein optisch« nicht ganz sein Typ sei.
Sie setzte ihr neues Hobby zwei Tage lang beleidigt aus, flirtete auf der Silvesterparty lustlos mit dem schwitzigen Dicken und rief am Neujahrsmorgen ihre beste Freundin an, um sich mit ihr gemeinsam auf ein weiteres Jahr als glücklicher Single einzustimmen: »Ich hab es ja schon immer gewusst: Wir sind zu gut für diese Welt, Männer sind Schweine, ich will so alleine bleiben, wie ich bin.« Aber noch am selben Abend scannte sie ihr schönstes Urlaubsfoto ein, das, auf dem ihre Haut so braun, ihre Zähne so weiß und ihre Haare so hübsch vom Wind zerzaust waren. Und dann bastelte sie sich ein 1A-Profil zurecht. Spritzig, geistreich, viel versprechend. Auch wenn es ihr peinlich war, zu solch drastischen Mitteln greifen zu müssen. Hoffentlich sah keiner ihrer Bekannten, wie sie sich da anbot wie sauer Bier.
Zum Schämen blieb gar keine Zeit. Denn ab jetzt geriet ihr neues Hobby schlagartig zur Vollzeitbeschäftigung. Von den rund 13 563 792 männlichen Singles im Umkreis von 800 Kilometern schrieb ihr ungefähr jeder Vierte eine E-Mail. Jedenfalls kam es ihr so vor. Kaum tönte am Abend das vertraute Törööö durchs Kinderzimmer, hatte Mama den Rechner schon hochgefahren. Die E-Mail-Box wie immer voll bis zum Anschlag. 98,9 Prozent sahen grässlich und deprimiert aus und schrieben dummes Zeug, weg damit. 1 Prozent sah ganz gut aus, leider zeugten aber die beigefügten Zeilen nicht gerade von Intelligenz und Selbstironie – also auch aussortieren. Das letzte Zehntelprozent schrieb Texte, die sie schmunzeln ließen, und schickte Fotos, die sie gerne länger betrachtete. Ihm wurde gnädig geantwortet.
Es war eine herrliche Zeit. Eine Sucht, die niemanden ins Verderben stürzte. Ein Doppelleben, bei dem keiner betrogen wurde. Sie schrieb und schrieb. Und die Männer schrieben zurück. Manche morgens aus dem Büro, manche abends aus ihren einsamen Junggesellen-Wohnzimmern. Jedenfalls behaupteten sie immer, dass es einsame Junggesellen-Wohnzimmer waren. Manche schrieben täglich, manche stündlich, manche im Minutentakt. Man neckte sich und man umgarnte sich. Charmant, diskret und vorsichtig, versteht sich. Immer gab es einen Favoriten. Mal war es der kluge Geschichtslehrer mit seinen schönen Schillerlocken, mal der freche Journalist mit seinen spitzzüngigen Anspielungen, mal der mitfühlende Fahrradkurier, der selbst ein Kind hatte und sich immer rührend nach ihrem erkundigte.
Nahtlos hüpfte ihre Begeisterung von einem zum anderen. Sie war eigentlich ununterbrochen virtuell verliebt. Wobei der einfallsreichste Schmeichler meistens die Nase vorn hatte. Oder der, der das beste Timing hatte. Denn Verliebtheit und Verzögerungseffekt hingen offenbar eng miteinander zusammen. Antwortete einer immer innerhalb von Sekunden, sank er bald
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