Wir sind nur Menschen
an der Arbeit, um das Verschwinden von ›Dr. Perthes und Co.‹ amtlich zu klären … Die Akten versandeten in bürokratischer Kleinarbeit und gerieten nach dem Durchlaufen beim siebten Dezernenten in endgültige Vergessenheit.
So gingen über zwei Monate hin. Professor Dr. Window besuchte in dieser Zeit häufig den Bankier, den der Vorwurf, den er sich selbst machte, daß sein Geld der äußere Anlaß zu der Katastrophe gewesen war, sehr schmerzte. Er warf sich vor, einen Mann in den Tod gejagt zu haben, und nicht nur ihn allein …
Sosehr sich Herr von Barthey auch vorredete, daß Dr. Perthes die Expedition mit anderen Mitteln auch unternommen hätte – es blieb immer ein Stachel. Nichts sprach ihn bei seinen hohen Moralbegriffen frei von der Schuld, zu dem Unglück maßgebend beigetragen zu haben. Diese Erkenntnis verwandelte den bisher so vitalen Mann in einen in sich versponnenen Träumer, der sich mehr über die tiefen Dinge des Lebens Gedanken machte als über sein bisheriges Arbeitsgebiet. Schöllang am Nebelhorn lag unterdessen unter einer hohen, glitzernden Schneedecke. Angelas Alp war nur noch über einen schmalen Pfad, von einem Schneepflug freigeschaufelt, zu erreichen, und es kam vor, daß man manchmal sehr lange warten mußte, bis die Post zu ihnen kam.
Dr. Bender tat diese Einsamkeit gut. Sie unternahm in ihrem jetzt deutlich sichtbaren Zustand lange Schneewanderungen auf Skiern, besuchte Reichenbach und Oberstdorf; einmal fuhr sie sogar nach Sonthofen, um die nötigen Dinge für den kommenden Erdenbürger auszusuchen.
Zwei Briefe, die, von Dr. Sacher weitergeleitet, aus Zapuare und San Juan in Kolumbien stammten, gingen den Weg aller Briefe Peters. Sie wurden in dem großen Steinofen verbrannt, ohne gelesen worden zu sein. Die Briefmarken weichte Angela vorher gewissenhaft ab und gab sie dem Briefträger für seinen Buben. Für sie war die Zukunft wichtiger als die Vergangenheit und die Gegenwart. Sie wollte ihr Kind im vollsten seelischen Frieden zur Welt bringen, dem schönen Gefühl, eine Mutter zu werden, ganz hingegeben. Sie dachte oft an ihre Mutter, die schwer arbeiten mußte, um das tägliche Brot zu verdienen; sie dachte an den Vater, der als Offizier nach der Revolution 1918 entwurzelt nach Hause gekommen und dann, in der Inflation seelisch zerbrochen, gestorben war. Sie dachte an ihre Kindheit auf Hinterhöfen, an die schwere Schulzeit, schließlich an die Stipendien, die es ihr ermöglichten, das Abitur zu machen und zu studieren. Es war ein harter Weg gewesen – an die Sonne. Ihr Kind sollte es einmal besser haben …
Mit Professor Purr stand sie in netter brieflicher Verbindung. Er bat sie zum wiederholten Male, das Kind in seiner Erlanger Klinik zur Welt zu bringen. Doch davon wollte Angela nichts hören. So losgelöst vom Alltag und so ganz mit der Natur verbunden fühlte sie sich nur hier in Schöllang; und die Klinik von Oberstdorf, in der Nähe der Nebelhornbahn, würde sie in den schweren Stunden aufnehmen. Das Kind sollte seine ersten zaghaften Schritte über blühende Bergwiesen machen …
Nach Weihnachten löste Dr. Sacher sein Versprechen ein – er kam nach Schöllang. Gleich nach seiner Ankunft fuhr er in einem Pferdeschlitten auf die Alp, wo Angela auf einer Bank in der Sonne saß, braun, im Gesicht etwas voller geworden. Zuerst erkannte sie nicht den in einen dicken Kamelhaarmantel gehüllten Dr. Sacher, doch dann sprang sie auf und kam ihm winkend entgegengelaufen.
»Dr. Sacher!« rief sie außer Atem, als sie bei ihm stand und der Arzt die im festgetretenen Schnee Ausgleitende auffing. »Daß Sie wirklich kommen, ist wunderbar! Was macht Köln? Wie geht es dem Professor?« Und mit einem Seitenblick: »Bringen Sie viele Neuigkeiten?«
Paul Sacher legte den Arm um Angelas Schulter und ging mit ihr auf das Haus zu. »Wie immer – ein Wasserfall von Fragen!« Er lachte. »Sie sind die alte Angela geblieben.«
»Das Gegenteil wäre ja auch traurig«, meinte sie übermütig.
Sie gingen in Angelas Zimmer, wo Paul Sacher sich aus dem Mantel schälte. Er legte, von Professor Window, eine große Schachtel Pralinen auf den Tisch, packte dann ein halbes Dutzend Strampelhöschen aus und holte als letztes aus der Manteltasche eine Flasche Enzian, die schon halb ausgetrunken war.
»Ich habe die Höschen in Weiß genommen, weil man ja vorher nicht wissen kann, was es wird«, sagte Paul Sacher lachend und nahm einen Schluck aus der Flasche. »Der Enzian ist gegen die
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