Wir sind nur Menschen
fuhr er noch ein schweres Geschütz seiner Überredungskunst auf: »Hast du von Peter seit seinem Unfall eigentlich eine Nachricht bekommen?«
»Nein«, antwortete Dr. Sacher stockend. »Nur von Dr. Cartogeno.«
»Und beweist dir das nicht deutlich genug, daß Peter mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hat? Daß er nicht mehr erinnert werden will an Köln, an unsere Klinik, an dich und mich? Er lebt in seinem Leid verbissen in der Gegenwart und für die Zukunft – aber die Vergangenheit ist tot für ihn, ein Zurückblicken würde ihn schwach werden lassen.« Energisch schüttelte er den Kopf. »Ich möchte den armen Jungen auch sehr gern trösten … aber er braucht keinen Trost durch Worte, sein großer Trost ist seine Aufgabe!«
An einem sonnigen Junitag fuhr Wolf von Barthey nach England und drei Tage später, von Southampton aus, mit einem der großen Überseedampfer nach Südamerika. Die Fahrt sollte eineinhalb Monate dauern.
An Dr. Cartogeno hatte er nichts von seiner Ankunft geschrieben. Er wollte plötzlich vor Dr. Perthes' Tür stehen. Die Überraschung sollte wirken. Nur an seinen Geschäftsfreund in Bogota und die Filiale seiner Außenhandelsbank gab er kurze Nachrichten mit dem Ankunftsdatum im Hafen von Buenaventura.
Der Bankier befand sich mitten auf dem Ozean, als in Köln die Nachricht von der schweren Erkrankung Angelas eintraf. Dr. Sacher zögerte keinen Augenblick und fuhr die Nacht durch mit dem nächsten Zug nach Erlangen. Am Morgen schon traf er in der Universitätsklinik ein.
Angela Bender hatte das Bewußtsein wiedererlangt. Aber sie war zu geschwächt, um auf die vorsichtigen Fragen, die Professor Purr stellte, eine Antwort zu geben. Sie schüttelte nur den Kopf auf alle Fragen, was man deuten konnte, sie wolle nichts sagen – was man sie auch fragen würde.
Achselzuckend verließ der Professor das Krankenzimmer. Zu dem Kollegen Professor Heines, der die Behandlung übernommen hatte, meinte er: »Ich stehe vor einem Rätsel. Ich weiß keine Erklärung mehr. Hier können wohl Sie und ich als Ärzte kaum helfen, hier scheint ein Meister am Werk zu sein, der uns über ist.«
Dr. Sacher, der an diesem Morgen vom Bahnhof gleich in die Klinik fuhr, erkundigte sich zuvor bei den Erlanger Kollegen nach Angelas Zustand und ließ sich die Krankengeschichte, soweit sie bekannt war, genau erklären. Auch er stand vor dem Rätsel der drei Tage, an denen Angela verschwunden gewesen war. Es war wie ein Dunkel, aus dem sie mit einem schweren Nervenfieber zurückkehrte. Angela Bender, Dr. med., die vielleicht nie wieder den weißen Ordinationskittel einer Ärztin anziehen konnte …
»Sie zu fragen hat keinen Zweck, Herr Kollege«, sagte Professor Purr zu Dr. Sacher. »Sie gibt keine Antworten. Sie reagiert auf alle Vorstöße in dieser Richtung mit einer geradezu verbissenen Abweisung. Wären wir Kriminalisten, hätten wir jetzt die undankbare Aufgabe, drei verlorengegangene Tage aufzuklären. Wir aber begnügen uns mit der medizinischen Seite und halten Dr. Bender zunächst unter strenger Bewachung. Es ist zu fürchten, daß sie an einem Komplex leidet, eventuell in der Nacht versuchen wird, die Klinik heimlich zu verlassen. Kollege Dr. Heines, ein Spezialist, ist sich auch noch nicht ganz klar über diesen komplizierten Fall.«
»Sie haben auch gar keine Andeutungen, wo sie gewesen sein könnte?« Dr. Sacher las noch einmal die Krankengeschichte aufmerksam durch. »Dr. Heines meint doch, daß das Nervenfieber durch eine außergewöhnliche Überanstrengung, eine Überreizung oder eine Überarbeitung ausgelöst wurde. Hatte sie in der Klinik einen so großen Aufgabenbereich?«
»Ganz im Gegenteil! Dr. Bender hatte nur die Visiten, den Verbandssaal und ab und zu die Assistenz bei einer Operation. Ich habe sie wegen der schweren Zeit, die hinter ihr liegt, wegen des Kindes, besonders geschont. Nein, hier ist nichts zu finden. Sie muß die freie Zeit, die ihr reichlich zur Verfügung stand, dazu benutzt haben, sich anderweitig zu beschäftigen und sich dadurch gesundheitlich zu ruinieren. Ein Zusammenbruch des zentralen Nervensystems kann innerhalb weniger Tage stattfinden! Das wissen Sie ja, Herr Kollege.«
Nach dieser Aussprache vermied es Dr. Sacher, Angela in ihrem Zimmer zu besuchen.
Eine lange Zeit stand er vor der weißen Tür und hörte sich den Bericht der Stationsschwester an. Apathisch, müde, interesselos sei die Patientin. Ihr einziger Wunsch sei Lektüre. Man habe ihr einige
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