Wir sind verbannt (German Edition)
aufpassen würden, dass niemand versuchte, sich das Essen unter den Nagel zu reißen. Oder vielleicht waren die Soldaten ja auch diejenigen, die das Essen verteilten.
Als das Schiff anlegte, drängte die Menschenmenge vorwärts. Auf einmal schrien so viele Leute durcheinander, dass ich kein einziges mehr Wort verstand. Sie schwenkten die Arme und ihre Schilder, wichen jedoch zur Seite, als die Soldaten ihnen bedeuteten, den Weg freizugeben.
Plötzlich machte Onkel Emmett einen Satz nach vorn und zog Meredith an der Hand hinter sich her. Mom drängte sich noch schneller durch die Menge. Die Körper pressten sich immer fester an uns, während wir uns den Weg nach vorne bahnten. Vom Meer wehte eine kalte Brise herüber, doch mir rann der Schweiß den Rücken hinunter.
Rund um uns herum wurde noch immer so viel geschrien, dass ich nicht hören konnte, was Onkel Emmett sagte. Er zeigte auf sich und das Festland und auf Meredith, die einfach nur total verängstigt aussah. Die Soldaten schüttelten die Köpfe und antworteten irgendetwas. Man konnte deutlich erkennen, dass sie wollten, dass Onkel Emmett wegging. Doch er bewegte sich nicht vom Fleck und sprach immer lauter, bis auch ich ein paar Fetzen verstehen konnte: so etwas wie »Kinder umbringen« und »bleibt unter euresgleichen«.
Die Soldaten schien das jedoch nicht zu kümmern. Einer packte Onkel Emmett am Arm und wollte ihn zur Seite ziehen. Er riss sich los und stieß den Soldaten so heftig von sich, dass er rückwärts stolperte.
Ein Schuss peitschte durch die Luft, knallte so laut, dass es mir in den Ohren klingelte. Und Onkel Emmet stürzte zu Boden.
Mom schrie kurz auf und streckte die Hand nach ihm aus. Im selben Augenblick bewegten sich die Leute um uns herum vorwärts, die Schreie wurden immer lauter, die Stimmen immer aufgebrachter. Als die Menge an Onkel Emmett und Meredith vorbeistürmte, verlor ich sie aus den Augen. Ich hörte noch einen Schuss, vielleicht auch zwei – in meiner Erinnerung verschwimmt das alles.
Als wir bei den beiden ankamen, wäre Mom beinahe über Onkel Emmetts Bein gestolpert. Er lag ausgestreckt auf dem Boden, sein Hemd war auf der Vorderseite völlig mit Blut durchnässt. Meredith kauerte neben ihm, den Kopf ganz nah an seinen gebeugt, und sagte dauernd: »Daddy, Daddy, Daddy.« Eine graue Verfärbung kroch unter seine dunkle Haut, und auf seinen Lippen lag eine zittrige Spuckeblase.
Einen Moment lang schien sich alles um uns herum zu drehen. Ich machte die Augen zu und wieder auf, doch das, was sich da abspielte, war immer noch genauso schrecklich wie vorher.
Mom packte Onkel Emmett an den Schultern. »Hilf mir, ihn zu tragen«, sagte sie mit bebender Stimme. »Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen.«
Ich beugte mich vor, um mit anzupacken, als ein paar Männer mitbekamen, was wir da machten, und rasch zu uns herüberkamen. »Zeigen Sie uns einfach, wo ihr Wagen steht«, sagte der eine und nahm Onkel Emmetts Füße. Ich legte meinen Arm um Merediths Schultern, und wir zwängten uns wieder durch die Massen von menschlichen Körpern, die vor- und zurückwankten, als wären sie sich nicht mehr sicher, ob sie sich in Richtung Fähre bewegen wollten oder lieber weg von den Gewehren.
Ich drehte mich noch einmal um und sah nur noch, wie die Fähre sich vom Anleger entfernte.
Onkel Emmetts Lieferwagen war zugeparkt, deshalb mussten wir ihn den ganzen Weg bis zu unserem Auto tragen. Die Männer, die uns geholfen hatten, manövrierten ihn vorsichtig auf den Rücksitz. Er keuchte, und Meredith zitterte an meiner Seite. Mom blickte uns beide an und sagte: »Kannst du sie nach Hause bringen, Kae? Ich rufe euch an, sobald ich weiß, wie es um ihn steht.«
Ich war wie betäubt, während ich Meredith nach Hause brachte, so dass es fast schon ein Wunder ist, dass wir es so schnell hierher geschafft haben. Und ich tu mein Bestes, um sie irgendwie abzulenken. Jetzt spielt sie das neue Super Mario-Spiel, obwohl sie dabei auf den Bildschirm starrt, als würde sie ihn gar nicht richtig wahrnehmen, und manchmal läuft sie den Goombas einfach direkt in die Arme. Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Jemand, einer der Soldaten, die uns Nahrungsmittel und Medikamente zum Überleben bringen sollten, hat im Hafen – in unserem Hafen – auf Onkel Emmett geschossen. Und auch noch andere Leute, glaube ich.
Und dann haben sie uns einfach im Stich gelassen.
Bitte, bitte, bitte, mach, dass Onkel Emmett überlebt.
30. September
Mom
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