Wir sind verbannt (German Edition)
auf der Fahrbahn. Irgendwer, der an dem Virus gestorben war oder an dem verschmutzen Wasser oder vielleicht erschossen worden war – ich war zu weit entfernt, um das erkennen zu können. Ein Kojote war gerade dabei, daran zu zerren. Ich sah schnell weg und stieg in den Wagen.
Eigentlich kann ich das Tier nicht mal verurteilen. Ohne Nahrung können schließlich auch Kojoten nicht überleben.
Auf der Rückfahrt zu Tessa fuhr ich einen kleinen Umweg Richtung Hafen. Nicht zu dicht ran, denn ich hatte noch gut im Gedächtnis, was Dad über die schießwütigen Soldaten erzählt hatte. Gerade nah genug, um ihn durch das Fernglas gut erkennen zu können. Am Kai war niemand zu sehen. Ich ließ den Blick über die Boote schweifen, und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie waren halb unter der Wasseroberfläche verschwunden, den weißen Bug oder die Seiten aus dem Wasser emporragend, wo sie an der Anlegestelle festgebunden waren. Einigen fehlten riesige Stücke am Rand, oder sie hatten zersplitterte Löcher im Rumpf. Es sah aus, als sei ein Riese mit einem Vorschlaghammer quer dort hindurchgestürmt. Ich folgte der geschwungenen Linie des Kais mit dem Blick und versuchte Onkel Emmetts Motoryacht zu entdecken. Das wüste Durcheinander der Trümmerteile machte es unmöglich, irgendein bestimmtes zu erkennen, aber soweit ich sehen konnte, ist kein einziges der Boote unbeschädigt davongekommen.
Der heftige Sturm, den Dad erwähnt hatte, konnte unmöglich einen so großen Schaden angerichtet haben – ich habe noch nie einen Nordoststurm erlebt, der Boote dermaßen schlimm zurichtet. Das konnte nur ein Mensch gewesen sein. Oder mehrere.
Mir wurde plötzlich so mulmig, dass ich das Fernglas herunternehmen und die Augen schließen musste. Jedes Mal, wenn ich mich umsehe, ist wieder etwas zerstört.
18. November
In den letzten Tagen hat der Lärm im Krankenhaus zugenommen. Dad und Nell haben zwar nichts gesagt, aber ich vermute, dass sie kaum noch Beruhigungsmittel haben. Sämtliche Stadien der Krankheit sind live in den Fluren mit anzuhören: das Husten und Niesen mit dem aufdringlich-freundlichen Geschwätz genauso wie die Panikschreie. Gestern musste ich dreimal Anlauf nehmen, bevor eine der Krankenschwestern mir endlich zuhörte. Und ich kapierte erst, warum, als sie einen ihrer Ohrstopfen herausnahm, um mich besser zu verstehen.
Das Virus hat eine Stimme, und die klingt alles andere als fröhlich.
Eigentlich hatte ich vor, den ganzen Nachmittag im Archiv zu bleiben, doch nachdem ich eine Stunde damit zugebracht hatte, jede Einzelheit der Behandlungen durchzugehen und die Überlebenden mit den anderen zu vergleichen, legte ich die Akten zur Seite und verließ den Raum. Ich habe es in den letzten Tagen wieder und wieder überprüft; da ist nichts. Nichts Außergewöhnliches, das uns sechs von den anderen unterscheidet. Keine wundersame Lösung, die nur darauf gewartet hatte, dass ich über sie stolpere.
Als ich hinaus in die kühle Luft trat, hörte ich das Brummen eines Hubschraubers. Er schwirrte über meinen Kopf hinweg, zurück Richtung Festland. Ein Reporter, der Material für die Nachrichten sammelte? Oder noch eine Lieferung, die inzwischen schon von der Gang weggeschnappt worden war? Ich stellte mir vor, wie die ganze Bande all die Medikamente, die das Krankenhaus so dringend benötigte, hinten in ihren gestohlenen Lieferwagen warf, und meine Hände ballten sich zu Fäusten.
Ich marschierte schnurstracks zu Tessa. Sie kniete gerade im Gewächshaus und schnitt eine der Stauden zurück.
»Lass uns wieder losziehen«, sagte ich. »Nach Medikamenten suchen. Wir waren mit den Ferienhäusern noch nicht ganz durch.«
»Ich hab die restlichen alleine fertig gemacht«, erwiderte sie.
»Dann versuchen wir es mit den normalen Wohnhäusern«, antwortete ich. »Wir können bei uns in der Straße anfangen.«
»Du meinst einbrechen?«, fragte sie und zog eine Augenbraue nach oben.
Warum nicht?, dachte ich beinahe. Die Typen aus der Gang plünderten die Häuser schon aus purem Egoismus, warum sollten wir es dann nicht tun, um dem Krankenhaus zu helfen? Doch bei dem Gedanken an die Gang fiel mir der Tag wieder ein, an dem der Kerl mit dem Lieferwagen direkt vor meinen Augen die Frau erschossen hatte, und mir drehte sich der Magen um. Ich will auf keinen Fall enden wie sie.
»Nein«, sagte ich. »Das müssen wir nicht. Ich weiß, welche Häuser leer stehen, von meinen Runden mit Gav. Wir kontrollieren die
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