Wir sind verbannt (German Edition)
Haustüren und gehen nur rein, wenn sie unverschlossen sind.«
So kam es, dass wir Meredith gestern und heute Nachmittag vor eine ihrer DVDs gesetzt haben und losgezogen sind. Ich lasse Tessa immer draußen warten, während ich mich rasch überall umsehe, um sicherzugehen, dass das jeweilige Haus auch wirklich leer steht. Die ersten Male brach mir der Schweiß aus, als ich die Flure Richtung Schlafzimmer entlangging. Doch ich begegnete nie wieder irgendwem, weder krank noch gesund, weder tot noch lebendig. Und nach einer Weile fing die Erinnerung an die tote Frau und das tote Kind in dem Ferienhaus an zu verblassen.
Was allerdings nicht bedeutet, dass es nicht manchmal furchtbar ist, da hineinzugehen. Die Häuser der Sommergäste waren alle so museumsmäßig aufgeräumt und weit abgelegen, dass ich mir vorstellen konnte, da würde niemand wohnen. Aber die Häuser, die wir jetzt ausräumen, gehörten Menschen, die mir früher auf der Straße begegnet sind oder denen ich im Supermarkt zugenickt habe. Menschen, deren Anwesenheit noch immer spürbar ist: auf den Fotos, die auf den Beistelltischen stehen, auf den Notizzetteln, die auf der Küchentheke liegen, an den Spielzeugen, die auf dem Wohnzimmerfußboden verteilt sind, und auf den Postern, die an den Schlafzimmerwänden hängen. Aber keiner von ihnen wird jemals zurückkehren.
Inzwischen habe ich gelernt, mich mit meinen Gedanken und meinen Augen auf die nächste Schublade und den nächsten Schrank zu konzentrieren und dabei alles andere, so gut ich kann, auszublenden.
Wir haben nicht besonders viel gefunden, größtenteils einfaches Zeug wie Schmerzmittel und Vitamintabletten, aber immerhin besser als gar nichts. Und wir nehmen das Essen mit, falls wir welches finden. Für den Augenblick hat Gav vielleicht genug zur Seite geschafft, aber wer weiß, wie lange es dauern wird, bis wir es wieder mal hinkriegen, eine der Lieferungen vom Festland abzubekommen. Tessa und ich fuhren alles zum Krankenhaus, und ich verstaute die Lebensmittel dort in der Küche.
Gestern Abend kam Gav vorbei, um auch mit Tessa noch einmal die Selbstverteidigungstechniken durchzugehen und zu kontrollieren, ob Meredith und ich noch wussten, was er uns beigebracht hatte. Und heute Morgen habe ich ihn auf unserer üblichen Runde gesehen. Aber ich habe ihm nichts davon erzählt, was wir machen. Nicht etwa weil ich Angst habe, er würde es nicht gut finden. Das würde er sicher. Aber er würde bestimmt ganz hibbelig werden und versuchen, das Ganze selbst in die Hand zu nehmen und es in die regulären Essensausfahrten zu integrieren. Und dann wäre es nicht mehr meins.
Vielleicht sollte ich froh sein, wenn noch mehr Leute dabei mitmachen würden. Aber aus irgendeinem Grund ist es mir im Moment unheimlich wichtig, diese eine Sache ganz für mich allein zu haben.
19. November
Vielleicht ist dir aufgefallen, dass ich nicht besonders viel von Dad erzählt habe, Leo. Das liegt daran, dass ich ihn kaum zu Gesicht bekomme. Jeder, der noch im Krankenhaus übrig ist, betrachtet ihn als seinen Boss. Inzwischen wohnt er praktisch da.
Und das ist irgendwie auch sicherer für uns alle, denn so riskiert er nicht, das Virus mit zu Meredith und Tessa zu bringen. Abends ruft er meistens an, um kurz hallo zu sagen, aber er kann nie länger als ein oder zwei Minuten in der Leitung bleiben. Das ist natürlich nicht annähernd dasselbe wie ihn hierzuhaben. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und frage mich, wo er ist, und es kommt mir vor, als wäre er fast genauso weit weg wie Mom oder Drew.
Ich weiß nicht, wie er das schafft. Wenn wir einander im Krankenhaus begegnen, lächelt er immer, doch die Erschöpfung steht ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Im Forschungszentrum ist es sicher ruhiger, vielleicht kann er dort nachts ein bisschen schlafen. Hoffentlich. Denn wenn das so weitergeht, wird er garantiert krank, selbst wenn er sich nicht mit dem Virus ansteckt. Ich kann ihn nicht auch noch verlieren. Auf keinen Fall.
Heute Abend hatte ich endlich die Gelegenheit, ein richtiges Gespräch mit ihm zu führen. Ich war gerade dabei, die Lebensmittel, die Tessa und ich besorgt hatten, wegzuräumen, als er in die Krankenhausküche kam und anfing, sich eine Tasse Instantsuppe zu machen. Jetzt weiß ich wenigstens, dass er gelegentlich auch etwas isst.
»Hast du irgendwas vom Festland gehört?«, erkundigte ich mich. »Bringen sie im Radio überhaupt etwas darüber?«
Er zögerte und seufzte dann.
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