Wir sind verbannt (German Edition)
bevor die Epidemie ausgebrochen ist«, erwiderte ich. »Das ist nicht dasselbe.«
Sie zuckte mit den Schultern und sagte: »Ich kenne dich doch jetzt. Ich bin froh über das, was ich habe, und versuche, nicht dauernd an das zu denken, was ich nicht habe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir weniger Sorgen um meine Mom und meinen Dad machen würde, wenn sie hier bei mir wären. Wahrscheinlich hätte ich dann mehr Angst. Soweit wir wissen, hat sich das Virus wenigstens bis jetzt nicht auf dem Festland ausgebreitet.«
Im Vergleich zu ihr muss ich wie ein emotionales Wrack erscheinen. Ich glaube ihr Zuhause, ihr Gewächshaus und die Medikamententouren, auf die wir gemeinsam gehen, sind die drei Dinge, auf die Tessa ihr Leben momentan reduziert hat. So ist es anscheinend leichter, nicht durchzudrehen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, die Arbeit im Krankenhaus und die Essensausfahrten einfach so aufzugeben. Auch wenn das, was ich da zu sehen bekomme, schwer auszuhalten ist, so weiß ich doch wenigstens, dass ich helfe. Ohne diese Gewissheit könnte ich das Ganze wahrscheinlich nicht mal halb so gut ertragen.
Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, es jemals zu erwähnen, aber es rutschte mir irgendwie raus.
»Vor einiger Zeit«, sagte ich, und malte mit dem Finger ein Muster auf die Sofalehne, »als wir noch in der Schule waren, da bist du mal zu spät zum Unterricht gekommen und wolltest nicht neben mir sitzen.«
Sie runzelte die Stirn. »Welches Fach denn?«, fragte sie. »Und wo hast du gesessen?«
»Es war in Bio«, antwortete ich. »Und ich saß ganz vorne. Aber schon gut. Ist nicht mehr so wichtig.«
»Doch«, sagte sie. »Ich kann dir auch den Grund sagen. Ich sitze lieber hinten. Wenn wir den Unterrichtsstoff der letzten Stunden wiederholen, fange ich nämlich immer schon mit den Hausaufgaben an, aber die meisten Lehrer sind sauer, wenn sie einen dabei erwischen. Vorne geht das nicht.«
So einfach war das. Wenn sie vorne neben mir gesessen, hätte, wäre das nicht gegangen. Hätte ich Tessa damals schon gekannt, dann hätte ich sicher gemerkt, dass sie mich nicht vor den Kopf stoßen wollte. Sie verschwendet ihre Zeit eben nicht damit, nachtragend zu sein oder andere Leute zu bewerten. Sie tut nur gerne das, was sie will, und zwar auf die Art und Weise, wie sie es will.
Damals wirkte ihr Verhalten auf mich arrogant. Aber inzwischen bewundere ich sie irgendwie dafür. Tessa strahlt auch etwas aus, auf ihre ganz eigene bedächtige und ruhige Art. Sie erhellt vielleicht nicht den ganzen Raum, so wie Shauna, wenn sie sich in den Mittelpunkt spielt, aber das würde sie auch nicht wollen. Das hast du wahrscheinlich schon vor langer Zeit gemerkt, Leo. Und mir wäre es vielleicht auch schon viel früher aufgefallen, wenn ich nicht dauernd damit beschäftigt gewesen wäre, es ihr übelzunehmen, dass sie dich bekommen hat.
»Danke«, sagte ich zu ihr. »Dafür, dass wir hier wohnen dürfen. Und für alles.«
Dafür, dass du nicht bemerkt oder zumindest absichtlich übersehen hast, dass ich dir vor einigen Monaten noch ohne mit der Wimper zu zucken gern den Freund ausgespannt hätte – das war der Teil, den ich nicht laut aussprach.
Eigentlich hatte ich gedacht, es würde mir nichts mehr ausmachen, jetzt, wo Gav und ich, na ja, das sind, was immer wir sind, und wo zwischen mir und Tessa so was wie Freundschaft besteht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich bis zu diesem Moment wirklich schon losgelassen hatte. Es fühlte sich an, als hätte der Dorn, der sich mir die ganzen Monate über ins Fleisch gebohrt hatte, sich plötzlich gelöst und würde von mir abfallen.
Ich weiß nicht, was ich ohne Tessa gemacht hätte. Sie hat dich verdient, Leo.
28. November
Weißt du, bei all dem Gerede über »Mutter Natur« und das natürliche Gleichgewicht interessiert es die Natur in Wahrheit einen Scheiß, was mit irgendwem oder irgendwas passiert.
Jeder Wissenschaftler weiß das. Die Natur kennt weder Moral noch Gefühle; sie besteht nur aus einem Haufen von Zufällen, die manchmal zugunsten eines Rudels oder einer Herde passieren, manchmal eine Art aber auch komplett auslöschen. Durch einen dieser Zufälle hat das Virus die Fähigkeit bekommen, unsere Hirne zu infizieren und sich weiterzuverbreiten, indem es seine Opfer dazu bringt, die Gesellschaft anderer Leute zu suchen. Und was die Natur betrifft, der ist es völlig gleichgültig, ob wir nun gewinnen oder das Virus. Nichts und niemand hält zwischendurch mal
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