Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
besuchte? Ich habe dir einen Rucksack gezeigt. Er stank nach Pferdemist. Stell dir vor, das lege ich jetzt auch zu den Akten.«
Ziegen ließ ein meckerndes Lachen hören. Dann fuhr er fort: »Frau Jürgens ist eine Perle. Ein wahrer Schatz und so tüchtig. Sie hat es herausgefunden. Stern, ein jüdischer Allerweltsname. Sie fand auf den Listen unseres Gestapobereichs 162-mal den Namen Stern. Alle in den Osten verfrachtet. Offiziell heißt das: Unbekannt verzogen. Und P. Stern hieß Paul Stern. Da fragt man sich, wie so ein Judenlümmel zu einem christlichen Vornamen kommt. Ein Bengel aus Eikamp. Sohn eines Brennstoffhändlers. Verladen nach Auschwitz.«
Über den Becherrand sah Paul in das Gesicht mit den kalten Augen.
»Siehst du, Peter: Nichts und niemand geht verloren.«
Mörder!, dachte Paul und rieb die Zähne aufeinander.
»So wie es aussieht«, hörte er Ziegen weiterreden, »kann ich nicht mehr viel für dich tun, Peter. Dein Einberufungsbefehl ist sicher schon unterwegs. Oder meldest du dich freiwillig? Für einen guten deutschen Jungen gehört sich das. Und das bist du doch? Ein guter deutscher Junge.«
Den letzten Satz sprach er langsam und gedehnt.
Das wird dir noch leidtun, du Arschloch, dachte Paul. Und er schlürfte geräuschvoll seinen Kaffee.
»Mit denen in Brauweiler«, sagte Ziegen, »sind wir so gut wie fertig. Nur noch etwas Aktenkram. Keine Gefangenen. Wir machen keine Gefangenen mehr. Wir haben jetzt umfangreiche Befugnisse. Die Befehle kommen direkt aus dem Reichssicherheitshauptamt. Keine Umwege mehr über die Gerichte. Wir machen das nach Standrecht und dann ist das für uns erledigt.«
»Und das heißt?«, fragte Paul.
Doch Ziegen antwortete, als gäbe es Pauls Frage gar nicht. »Du bist jedenfalls aus der Sache raus. Erst habe ich gedacht, ich brauche dich für eine Aussage oder eine Gegenüberstellung. Aber irgendwann fangen alle an zu reden. Manche können überhaupt nicht mehr aufhören.«
Ziegen lächelte in sich hinein, dann wirkte er für einen Moment nachdenklich, als kramte er in seinem Gedächtnis. Da war etwas, was er unbedingt noch loswerden wollte.
»Dieser Bastian Frei hat es uns nicht leicht gemacht. Dich mochte er wohl nicht? Oder? Du hast ihm das Mädchen weggeschnappt, sagte er. Er hat ganz übel über dich geredet. Hatte dich immer in Verdacht, sagte er. Du warst in seinen Augen ein Spitzel. Dass er uns Nationalsozialisten nicht leiden konnte, war uns schon lange klar. Aber dich hat er gehasst. Also wenn du mich fragst, irgendwie adelt dich das in meinen Augen.«
Paul hätte sich ohrfeigen können. Bastian hatte ihn schützen wollen. Der war in Haft und wurde gefoltert und schützte ihn noch. Und er, Paul, saß hier, trank Kaffee und war ein elender kleiner Spitzel, ein Verräter.
PAUL
HATTE
FAST alles geputzt. Sogar das Bett gemacht und eine graue Stalldecke darübergeworfen. Er hatte das Geschirr gespült und über die Spülschüssel ein kariertes Baumwolltuch gelegt. Hennes grunzte, und dann hörte er, wie das Pferd Wasser aus dem Eimer schlabberte. Auf dem Hof war es ruhig. Die Stalltür stand sperrangelweit offen und ein kühler Wind wehte herein.
Paul spannte einen Bogen Papier in die Adler und begann:
Eine Zeit lang habe ich gedacht, es sei eine wundervolle Idee, einfach zu verschwinden. Wegzugehen. Dafür gibt es immer gute Gründe und – glaube mir – ich bin ein Experte im Weggehen.
Zack, und das ist jetzt für Dich und für alle, die noch Träume haben und wissen, was Sehnsucht ist:
»Vielleicht macht uns dieser Scheißkrieg ja zu besseren Menschen, weil wir lernen, die Dinge zu achten, die uns geblieben sind.«
Das hast Du zu mir gesagt, Zack. Wir saßen an der Wand des Takubunkers und der Beton gab die Wärme der Sonnenstrahlen ab. Auch noch, als sie sich längst hinter den Horizont verzogen hatten.
Jeden Tag riskieren wir es, umgebracht zu werden oder jemanden umzubringen. Irgendwann gefällt uns die Dunkelheit und die Kälte und wir richten uns behaglich darin ein. Ich habe, als mir der Tod sehr nahe war, neben Dir an dieser Wand gesessen und Dich für einen Spinner gehalten und diese Edelweißpiraten für Träumer.
Aber heute weiß ich: Wir mussten Träumer sein, weil die Wirklichkeit sich zur Hölle verwandelte und wir darin zu Tieren geworden wären.
Wir sind keine Tiere geworden. Wir haben nicht mitgemacht. Auch wenn unser Kurs manchmal schlingerte. Aber wir sind unseren Zielen treu geblieben. Wir haben die Menschen und die
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