Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
ihn aufpassen. Bis du dich eingerichtet hast.«
Paul lächelte.
»Du bist ein Glückskind«, sagte Bastian.
»Findest du?«
Auf der einen Seite, dachte Paul, wurde er immer ärmer. Er dachte an seinen Vater, an ihren Hof in Eikamp, den Hund, sein Pferd. Der Tabak war auch so gut wie futsch. Herr Wutz kam nicht mehr nach Hause. Übrig geblieben waren das Geldbündel und die Knarre. Auf der anderen Seite war einiges hinzugekommen: Opa Tesch, Franzi, Hotte, die Edelweißpiraten und vielleicht dieser Junge, der ihm misstrauisch gegenübersaß. Eine Menge Fragezeichen, wenn er richtig überlegte.
»Nett hast du es hier«, sagte Bastian. Dann stupste er die Luger an. »Ich mag diese Dinger nicht. Wo geschossen wird, ist Lärm.«
»Die ist doch noch leise.«
In Bastians Gesicht zeigte sich plötzlich eine kaum zu beherrschende Wut. Seine Augen wurden schmaler. Gleich würden Blitze daraus hervorschießen und Paul verdampfen lassen. Bastian schob das Kinn nach vorne. Die Zähne mahlten aufeinander. Das Gesicht wurde blass und kantig und die Nasenflügel zitterten. Bastian schien zu überlegen, ob er ihm jetzt gleich eine reinhauen oder noch einen Moment warten sollte.
»Was hast du damit vor?«, fragte Bastian so ruhig und beherrscht, dass Paul der Schreck in die Glieder fuhr. Er beschloss, sich nicht mit Bastian anzulegen.
Opa Tesch stieß die Tür mit dem Fuß auf und schlurfte herein. In der einen Hand trug er eine Kanne Muckefuck, die er auf den Tisch stellte. In der anderen drei Tassen. Zwei stellte er ab. Die dritte nahm er wieder mit. Die Tür blieb offen.
Bastian und Paul grinsten. Ihre erste Gemeinsamkeit für heute.
»Also. Was hast du vor? Wozu brauchst du die?«
»Vielleicht habe ich Angst.«
»Du kannst nicht weglaufen.«
»Bin ich schon.«
Bastian blickte auf. »Das reicht mir nicht.«
Paul nahm eine Zigarette und hielt Bastian die Schachtel hin. Er wollte keine. Bastian schien keine Eile zu haben. Er saß da, als könnte ihm nichts etwas anhaben.
»Als meinem Vater befohlen wurde«, begann Paul schließlich, »etwas von unserem Kram einzupacken und sich pünktlich im Sammellager einzufinden, habe ich mich gefragt, wie dieser Mann das tun konnte. Einpacken, hingehen und den Sohn mitnehmen. So ist mein Vater und ich liebe ihn aufrichtig. Aber ich verstehe ihn nicht. Warum ist er nicht mit mir abgehauen? Oder hat mich aufgefordert abzuhauen? Er hatte Zeit genug. Er hatte mich, Geld, eine Pistole und ein Pferd. Aber er geht einfach so dorthin.«
Bastian behielt weiter die Waffe im Auge. »Das erklärt immer noch nicht, was du damit vorhast.«
»Ich habe mich entschieden. Für mich und mein Leben. Gegen das, was mein Vater getan hat. Und ich werde die Pistole benutzen, wenn einer daherkommt und versucht, es mir zu nehmen.«
»Ja, Paul. Was ich höre, ist immer nur: Ich, ich und noch einmal ich. Ich wäre bei meinem Vater geblieben. Komme, was wolle.«
Bastian stand auf und schob den Stuhl unter die Tischkante.
»Und noch was, Paul. Ich werde dir helfen, wenn auch nicht um jeden Preis. Aber pass auf, dass die Menschen, die ich liebe, nicht verletzt werden. Franzi zum Beispiel. Und denke immer daran, dass ich in deiner Nähe bin. So oder so.«
»Franzi?« Paul wollte losstottern, aber er biss sich auf die Lippen.
Bastian nickte und murmelte ihren Namen, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
ES
STANK
NACH Maschinenöl, Ruß und Kohlebrand. Bastian presste sein Gesicht in den Bahndammschotter und konzentrierte sich auf die knirschenden Geräusche unter den Stiefeln des bewaffneten Wachtpostens. Seine rechte Hand umklammerte das Brecheisen. Den »Generalschlüssel für die Waggons der Deutschen Reichsbahn«, wie Hotte das rostige Eisen nannte.
Die Schritte des Postens entfernten sich. Bastian sah zu Zack hinüber. Im fahlen Mondlicht lag der auf dem Rücken und schlief, leise und gleichmäßig atmend. Hotte kauerte etwas abseits im Dickicht vor der Unterführung. Vor ihnen stand der Güterzug. Keine fünfzig Meter entfernt.
Sie lagen seit mehr als zwei Stunden im Schotter und warteten auf den Fliegeralarm. Den gab es jetzt im vierten Kriegsjahr fast jede Nacht. Der Posten würde in seinen Unterstand verschwinden. Wenn die Flak zu schießen begann, würden sie zu den Waggons kriechen, den Riegel vor den Schiebetüren aufbrechen. Sie würden in die dunklen Löcher klettern und Kartons hinauswerfen. Sie hatten es auf Lebensmittel abgesehen. Sie wussten nie, was sie ergatterten, doch
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