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Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten

Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten

Titel: Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Meine erste Verwundung. Glatter Durchschuss durch den Oberschenkel. Keine große Sache.« Er strich sich mit der linken Hand über die Stirn. »Also, ich sitze zu Hause bei meinen Eltern und wir plaudern. Vater hatte schon den einen oder anderen Wein intus und wurde erst redselig und dann leichtsinnig. Eigentlich wollte er nur wissen, ob mir klar ist, wofür ich meine Knochen hinhalte.«
    Werner sah auf seine Fingernägel. »Pass gut auf, Lagusch. Jetzt kommt’s. Unsere Nachbarn haben einen Sohn, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Der kommt nicht so richtig mit. Du würdest wahrscheinlich sagen: Aha, ein Idiot, ein Schwachsinniger. Du darfst das sagen, Lagusch. Das ist ja dein Fachgebiet.«
    Lagusch duckte sich verärgert.
    Werners Stimme klang freundlich. Er hob die Flasche und das Bier gluckerte durch seine Kehle. »Man könnte aber auch sagen: Da ist ein kleiner Junge in der Nachbarschaft, er ist ein bisschen anders, aber ein fröhliches, lebendiges Kind. Neugierig und freundlich. Und den ganzen Tag hatte er Spaß.« Werner blinzelte mit dem gesunden Auge. »Also. Die Eltern bekommen Post und ihnen wird so richtig Druck gemacht. Das Kind soll ins Heim. Da soll’s ihm besser gehen, wird ihnen versprochen. Irgendwann geben sie nach. Aber nach zwei Wochen halten sie es nicht mehr aus und holen den Jungen aus der Anstalt zurück. Sie nehmen ihn einfach mit nach Hause.«
    Werner hustete. Er griff in seine Jacke und zog eine Zigarette heraus. Die Flamme des Benzinfeuerzeugs beleuchtete sein Gesicht. »Eine Woche später kommt wieder ein Brief. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Sohn Martin an einer Lungenentzündung gestorben ist. Er wurde eingeäschert. Gegen eine Gebühr von 20 Reichsmark stellen wir Ihnen die Urne zu.«
    Paul sah auf den Boden. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Seine Hand strich verlegen über den Tisch.
    Werner sagte: »Sie hatten einfach vergessen, ihn von der Todesliste zu nehmen. Verstehst du mich, Lagusch? Sie bringen in den Heimen kleine Kinder um und erzählen den Eltern Märchen. Und die Eltern wissen, da stimmt was nicht. Wenn sie aber fragen, kriegen sie noch eins auf die Schnauze. Kapiert, Lagusch? So weit die Geschichte vom schnuckeligen Heim, wo es ihnen besser geht.«
    Er machte eine Pause, sah Lagusch an und sagte: »Und jetzt, Lagusch, sieh unserer Lisa beim Spielen zu. Lisa soll es gut haben bei uns. Und wir haben Spaß beim Zuschauen.« Werner warf seine Zigarette auf den Boden, Funken sprühten und er zertrat die Glut.
    Paul hatte Lagusch beobachtet. Wie er erst die Augenbrauen hochzog, grinste, dann den Mund spöttisch verzog und am Ende der Geschichte fassungslos auf die Tischplatte stierte. Sie schwiegen alle.
    Werner bohrte seinen einäugigen Blick in das Gesicht des Vorarbeiters. »Lagusch, ich erzähle dir das nur, damit du nicht irgendwann behauptest, du hättest nichts gewusst.«
    Der Vorarbeiter winkte ab, erhob sich schwerfällig, öffnete die Tür und verschwand. Die Tür fiel hinter ihm laut und kräftig zu und schnappte ins Schloss. Aus einem Riss in der Wand über dem Türstock bröselte feiner Putz.
    »Tja«, sagte Paul und guckte immer noch auf die Tür, »dem hast du so richtig was zum Nachdenken gegeben.«
    »Meinst du?« Werner griff in die Bierkiste. »Ich glaube, dem ist nicht zu helfen.« Sein Gesicht blieb ausdruckslos.

    PAUL
    ZOG
    EINEN offenen Kohlensack an die Kante der Ladefläche, drehte sich herum, griff mit einer Hand über die Schulter und ging leicht in die Knie. Er packte den Sack am Wickel und wuchtete ihn auf den Buckel. Den anderen Arm stemmte er dabei auf die Hüfte.
    Herrlich, dachte er, wie in alten Zeiten. Er schniefte und spürte, wie sich der Kohlenstaub in seinen verschwitzten Hemdkragen schmierte. Zwanzig Schritte über den Hof und dann kippte er den Sack ohne Schwung über die Schulter in das Kellerfenster unter dem Kesselhaus. Polternd kollerten die Kohlenstücke in den Kellerschacht. Er faltete den Sack und legte ihn zu den anderen dreiundfünfzig Säcken, die er schon geleert hatte.
    »Das sieht aus, als hättest du das schon mal gemacht.« Werner hatte ein Fenster geöffnet, lag mit aufgestützten Armen auf dem Fensterbrett und sah ihm bei der Arbeit zu.
    Paul hätte ihm gerne von dem heiklen Gefühl erzählt, das er die Nacht und den ganzen Morgen mit sich herumgeschleppt hatte. Er hatte befürchtet, erkannt zu werden. War er doch mit seinem Vater früher mindestens zwei oder drei Mal bei genau dem

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