Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
ihm zu essen. Der Dortmunder wehrte sich nicht. Er ertrug jede Schikane mit Gleichmut. »Ich will nur überleben«, flüsterte er Bastian zu.
Am Ende der zweiten Woche gab es einen Halbzeitappell, wie es der Truppführer nannte.
Sie standen nach dem Aufstehen in Turnhemd und kurzen Hosen bei Nieselregen auf dem Sportplatz und lauschten mit Händen an der Hosennaht in strammer Haltung der flammenden Rede eines SS-Mannes, der von der Ordensburg kam und sich mit mächtiger Stimme vor ihnen aufgebaut hatte. Am Ende der Rede ließ er die Jungen wegtreten, die bereits im Besitz von Aufnahmeschreiben der Marine, der Wehrmacht, der Luftwaffe oder des Arbeitsdienstes waren.
»Der Rest, durchzählen!«, schrie er.
»Eins«, »zwei« ...
»Lauter!«
Zehn blieben zurück.
Ihr Truppführer trat auf den Dortmunder neben Bastian zu und schickte ihn weg. »Gesocks brauchen wir nicht.«
Der SS-Mann sagte, dass die neun jetzt die Möglichkeit hätten, sich freiwillig zur Waffen-SS zu melden. Er werde jeden einzeln fragen und jeder habe laut und deutlich mit »Jawohl, freiwillig!« zu antworten. Der Einfachheit halber sollten doch die vortreten, die davon keinen Gebrauch machen wollten. Man würde sich ihre Namen notieren.
Bastian trat vor.
Sie würdigten ihn keines Blickes und verließen den Hof. Der SS-Mann, der Truppführer und auch die acht anderen.
Bastian stand Stunden. Die Kälte biss ihm ins Gesicht. Er schwankte, konnte sich gerade noch aufrecht halten. Er biss die Zähne zusammen. Seine Beine kribbelten, der Kopf pochte, der Bauch rumorte ...
Bis endlich jemand kam und seinen Namen notierte.
An diesem Abend wurde Bastian mit dem Jungen aus Dortmund zur Nachtwache am Tor eingeteilt. Sie gingen auf und ab und bewegten sich gegen die Kälte. Nur nicht stehen bleiben und festfrieren, dachte Bastian. Die Zeit kroch nur so dahin. Es war öde und es war langweilig. Bastian gähnte und beobachtete seinen Atem, wie der als dünne weiße Wolke im Nachthimmel verschwand und sich auflöste. Was bewachten sie hier eigentlich und auf wen passten sie auf? Auf Fuchs und Hase, die sich hier in dieser gottverlassenen Gegend Gute Nacht sagten? Bastian versuchte, sich eine große heiße Tasse Schokolade vorzustellen. Er konnte sie schon beinahe riechen, als eine raue Stimme Achtung! brüllte.
»Achtung!« Hinter Bastian hatte sich breitbeinig ein Offizier aufgebaut. »Könnt ihr nicht ordentlich Wache schieben, ihr Pfeifen, oder wollt ihr nicht? Ich bin hier gerade hereingekommen und ihr habt nichts gemerkt.« Der Mann war mittelgroß mit einem dicklichen Jungengesicht unter der Offiziersmütze.
Bastian hielt ihm seine Stabtaschenlampe ins Gesicht.
Der Kerl blinzelte ihn aus kleinen Augen an. »Nimm die Lampe weg«, schnauzte er. Dann senkte er die Stimme. »Laufen, los, Schlappschwanz, lauf!«
Bastian glotzte ihn an: »Wie – laufen?«
Der Offizier kam näher: »Los. Lauf! Bis ich dich zurückrufe. Lauf!« Seine Hand wies hinaus, vom Gelände weg in ein dunkles Feld.
Bastian lief und versuchte, sich einen Reim auf den Schwachsinn zu machen. Er fand keinen. Aber das Laufen konnte der haben. Und als er die Stimme hinter sich »Zurück!« schreien hörte, lief er einfach weiter und dachte: Du kannst mich mal.
Plötzlich hörte er hinter sich einen keuchenden Atem. Er stoppte und erkannte den Dortmunder.
»Mann, komm zurück. Der dreht völlig durch.« Gemütlich trotteten sie zurück.
Der Junge neben Bastian schnaufte. »Der durfte uns nicht vom Posten wegschicken. Ich habe die Wachvorschriften auswendig gelernt. Ein klarer Verstoß«, sagte er hastig.
Der Offizier ließ sie strammstehen.
»Sie können mir gar nichts«, sagte Bastian. »Ich kenne die Vorschriften.«
»Name und Einheit?«, fragte der Offizier.
Bastian antwortete laut und deutlich.
Am nächsten Morgen wurde Bastian in das Büro der Lagerleitung bestellt. Das Vorzimmer war kahl und trostlos. Und ungeheizt. Bastian steckte noch die Kälte der Nacht in den Knochen. Er fror jämmerlich und bewegte sich, ging auf und ab.
Man ließ ihn warten. Das Fenster war vergittert. Bastian war allein. Jemand schrie über den Hof. Motoren wurden angelassen. Es wurde marschiert. Eine Stimme gab zackige Kommandos.
Im Flur dröhnten Stiefel. Die Tür wurde aufgerissen und ein Uniformierter streckte seinen Kopf herein. »Frei. Mitkommen.«
Der Lagerführer empfing Bastian aufrecht hinter seinem Schreibtisch stehend. An der Wand die Hakenkreuzfahne, daneben der Führer. Das
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