Wir toeten nicht jeden
Lippen schließlich von meinem Mund lösen.
»Bis zum Abend ist es nicht mehr lange«, sage ich und spüre augenblicklich, dass es bis dahin noch eine Ewigkeit ist.
»Genau darüber wollte ich mit dir reden, Juan …«
»Gibt’s irgendein Problem?«
»Eigentlich nicht. Aber du hattest recht mit deiner Befürchtung, dass unsere erste Nacht ein Nachspiel haben könnte. Mein Chef hat mich zu sich zitiert: So etwas dürfe eigentlich nicht vorkommen, aber wenn es passiere, verlange er äußerste Diskretion. Nur dann könne er ein Auge zudrücken …«
»Hast du eine Abmahnung bekommen?« Ich bin blass geworden. »Schmeißt er dich raus?«
Ein schelmisch-schüchternes Lächeln umspielt ihre Lippen.
»Ich glaube nicht. Ich habe nämlich zu einer Notlüge gegriffen: Ich habe ihm gesagt, wir wären schon über ein Jahr zusammen, und du hättest mich mit deinem Urlaub hier überraschen wollen. Weil du mich hier bitten wolltest, nach dem Sommer mit dir zusammenzuziehen. Das macht dir doch nichts aus, oder?«
Nein, das macht mir nichts aus. Im Gegenteil, es macht mich stolz, dass sie ihrem Chef diese Geschichte aufgetischt hat, anstatt hastig zu versprechen, dass es nicht wieder vorkommen wird. Die Ausrede hört sich nach Fortsetzung an, und das gefällt mir.
Weniger gefällt mir allerdings, dass sie eine glaubwürdige Lüge einfach so aus dem Ärmel schütteln kann. Sie hat Talent. So wie ich. Und so ein Talent lässt sich durch Training noch perfektionieren.
»Mein Chef ist ’ne Tunte, musst du wissen; er war so gerührt … es fehlte echt nicht viel, und er hätte uns sogar noch seinen Segen gegeben. Die letzte Entscheidung liege allerdings beim Geschäftsführer, hat er gemeint. Er habe die Sache zwar telefonisch zu regeln versucht, aber unser aller Boss wolle mich persönlich sprechen. Deshalb muss ich heute noch nach Cartagena fahren. Aber der wird sicher keine Probleme machen, mitten im Sommer findet er nämlich nicht so schnell einen Ersatz mit Erfahrung im FKK-Bereich. Mein Chef ist jedenfalls fast in Ohnmacht gefallen, als ich ihm anbot, zu kündigen, damit ich als Gast hierbleiben kann. Obwohl ich vielleicht ein bisschen voreilig davon ausgegangen bin, dass du mir in deinem Zelt Asyl gewährst …«
Ich antworte ihr mit einem langen Kuss. Ich will jetzt nicht nachdenken.
Aber ich tue es doch, oder zumindest tut es ein Teil meines Gehirns. Es denkt, dass es jemandem sicher sehr gelegen kommt, wenn er mich so unter Kontrolle hat – wer auch immer dahintersteckt. Es denkt, dass Yolandas Fahrt nach Cartagena mit der Abreise des Richters zusammenfällt. Und es denkt, dass nichts davon allzu wichtig ist, wenn ich sie heute Nacht wieder in meinen Armen halten kann.
Yolanda ist jedoch noch nicht fertig.
»Aber ich schätze mal nicht, dass es so weit kommen wird. Wie gesagt, gibt’s nicht so viel Fachpersonal. Wahrscheinlich kann ich mich mit dem Geschäftsführer sogar auf einen Kompromiss einigen.«
»Du fährst also heute Nachmittag nach …«
»Nein, heute Abend«, unterbricht sie mich. »Unser Geschäftsführer hat noch andere Angelegenheiten in Cartagena zu regeln. Ich esse mit ihm zu Abend und übernachte dann bei einer Freundin.«
Mein Gesicht muss meine Enttäuschung verraten haben, die ich ihr eigentlich nicht zeigen wollte, denn sie umarmt mich noch einmal zärtlich.
»Ja, ich weiß, ich würde ja auch furchtbar gern … Aber wenn alles gut geht, kann ich ab morgen umso mehr Zeit mit dir verbringen.« Sie lächelt lasziv. »Natürlich nur, wenn du willst …«
»Natürlich will ich!«
Da nimmt sie mich wortlos bei der Hand, um uns vorab für die Nacht zu entschädigen, die uns entgeht. Die frühere Nummer Drei hasste Zufälle, aber es gibt sie. Es muss sie einfach geben, so wie es diesen Trampelpfad gibt, den ich noch nie entlanggegangen bin und der zu den Hütten der Angestellten führt, die ich am Abend zuvor von der Anhöhe aus gesehen habe.
Yolanda zieht nicht an meiner Hand. Das ist nicht nötig, denn ich habe jeglichen Zweifel auf dem Altar der heiligen Zufälle geopfert, und man könnte fast sagen, ich bin derjenige, der sie zu ihrer Hütte führt, kopflos vor Verlangen. Es ist der perfekte Ort für einen Hinterhalt, sagt eine warnende Stimme, die im hintersten Winkel meines Gehirns noch wachsam ist, doch Yolanda schließt schon die Tür auf, und die zum Schutz vor der Sonne heruntergelassenen Rollläden bescheren uns eine künstliche Nacht, die uns mehr als genug ist.
Drinnen
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