Wir toeten nicht jeden
Gedankenverloren kommt er den Pfad entlang, vielleicht denkt er sich ja gerade einen neuen Romanplot aus. Ich lasse ihn den Bungalow betreten und klopfe dann an die Tür.
»Juan, was für eine Überraschung!«, begrüßt er mich. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«
»Ich bin mit der Vergangenheit zusammengerauscht, Professor. Einer ziemlich harten Vergangenheit.«
Er sieht mich fragend an, doch als er begreift, dass ich mich nicht weiter darüber auslassen werde, sucht er, ganz aufmerksamer Gastgeber, im Küchenschrank nach einer Flasche Grappa.
»Was macht Ihr Roman?«, fragt er, als er mit zwei Gläsern zurück an den Tisch kommt.
»Es ist kein Roman, Professor. Es ist mein Leben. Und das ist keine Metapher.«
Es dauert eine ganze Weile, bis er versteht, er schnappt nach Luft und gießt erst mal Grappa ein. Ich schiebe mein Glas weit von mir. Kein Alkohol heute Nacht.
»Erzählen Sie, erzählen Sie«, bittet mich der Professor schließlich, nachdem er sein Glas in einem Zug geleert hat.
Und ich erzähle es ihm. Nicht die ganze Geschichte, nur das, was er wissen muss: meine Rolle in der FIRMA, die Falle, in die man mich in den letzten Tagen gelockt hat, die Entführung von Antonio und Leti. Nach den Gesprächen mit Beltrán, Leticia, Arregui und Yolanda habe ich das Gefühl, eine Figur in einem Theaterstück zu sein, die jeden Abend denselben Dialog sprechen muss und in jeder Aufführung etwas hinzufügt oder weglässt, um keine Langeweile aufkommen zu lassen; nur dass ich es tue, damit jeder Einzelne von ihnen seinen Part in meinem Stück übernimmt, und wenn der letzte Vorhang fällt, ich wahrscheinlich nicht wieder aufstehe.
»Ich bin sprachlos, lieber Juan«, erklärt der Professor, als ich geendet habe, und schenkt sich einen weiteren Grappa ein. »Das Schlimmste ist, dass alles zusammenpasst. Wenn ich so etwas in einem meiner Romane geschrieben hätte, würden die Kritiker mir vorwerfen, dass die Fantasie mit mir durchgegangen ist.«
»Meine Selbstkritik wirft mir genau dasselbe vor, Professor.«
Zum Glück hat sich Camilleri wieder gefasst und überlegt nun angestrengt.
»Fassen wir also noch einmal zusammen und korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, Juan. Also, sie, ich meine, die von dieser … FIRMA, Ihrer Firma, haben Ihre Kinder entführt und verlangen dafür etwas von Ihnen.«
»Korrekt.«
»Und Sie haben das, was die wollen.«
»Genau«, behaupte ich, ohne zu zögern, denn in Wirklichkeit habe ich nur einige Vermutungen, Puzzleteile, die vor ein paar Stunden in Arreguis Bungalow an die richtige Stelle gerückt sind. Aber wenn man einen alten Mann bitten will, sich auf eine höchstwahrscheinlich selbstmörderische Mission einzulassen, muss man ihm nun mal irgendeine Sicherheit bieten.
»Und warum kaufen Sie Ihre Kinder dann nicht damit frei? Ich weiß, das ist nicht die literarischste Lösung, aber …«
»Das geht nicht, Professor. Ich traue ihnen nicht über den Weg. Wenn ich es ihnen jetzt gebe, bringen sie nicht nur mich, sondern auch meine Kinder um.«
»Und was wollen Sie dann tun?«
»Sie kriegen, was sie wollen, aber zuerst befreie ich die Kinder. Und Sie, Professor, sollen mir dabei helfen.«
Er verschluckt sich an seinem Grappa. Ein Blick hat ihm genügt, um zu wissen, dass ich es ernst meine.
»Ich brauche Sie, Camilleri. Vielleicht begeben Sie sich in Gefahr, aber wenn Sie sich an meine Anweisungen halten, wird Ihnen hoffentlich nichts passieren. Bitte, Professor.«
Da seufzt Camilleri auf und schiebt das Glas beiseite, das er sich gerade noch einmal vollgeschenkt hat.
»In Ordnung, Juan. Vielleicht ist es jetzt wirklich an der Zeit, das am eigenen Leib zu erleben, worüber ich seit Jahren schreibe. Ich stelle nur eine Bedingung: Wenn alles vorbei ist, darf ich die Geschichte für einen Roman benutzen. Von so einem Stoff habe ich schon immer geträumt. Eine reale Geschichte, die völlig unglaubwürdig klingt, man stelle sich das mal vor! Also, was muss ich tun?«
Wenn jemand uns beobachten würde und wüsste, was wir vorhaben, würde er sicher nicht an einen Actionfilm denken, sondern eher an eine Krimikomödie: ich mit meinem verbundenen Auge, dem von Arreguis Schlägen noch geschwollenen Gesicht, einer zu langen Trainingshose, da Arregui ein ganzes Stück größer ist als ich, und dazu noch leicht hinkend, was ich erst jetzt merke, und Camilleri, der den genretypischen Klischees nicht widerstehen konnte und trotz der Hitze
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