Wir waren nie Freunde
Gesicht, als ich aus unserem Garten trat.
Vielleicht liegt es am Schnee, denke ich. Vielleicht spiegelt der das Licht und verstärkt es.
Es funkelt im Schnee, es blendet in unseren Fenstern, auf dem Wagenblech entlang dem Astrakanvägen. Die Luft blitzt vor Reflexen, ist voller knisternder Sterne.
Der Paradiesapfelbaum vor dem Haus ist weiß. Bauschige Zweige balancieren den Neuschnee, der überraschend in der vergangenen Nacht gefallen ist. Dann sehe ich, dass alle Paradiesapfelbäume entlang der Straße so aussehen. Alles ist weiß, alles ist neu, alles leuchtet. Der Astrakanvägen ist die reinste Winterstraße. Das muss heute der hellste Tag des Jahres sein. Es ist Sonntag, sunday. Anfang April. Bald kommt der Frühling. Aber zuerst kommt dieser Tag, dieser in sich leuchtende Wintersunday, der die ganze Welt in sich zu spiegeln scheint, meine ganze Welt.
Ich halte Ausschau nach dem Igel, aber der Rasen ist weiß wie ein unbeschriebenes Blatt. Vielleicht hat er sich ja wieder schlafen gelegt.
Als ich bei Tove klingle, muss ich eine ganze Weile auf der Treppe warten. Aus dem Haus ist kein Laut zu hören. An der Tür steht >Ragnary<, und als ich sie das erste Mal anrief und jemand sich mit diesem Männernamen meldete, Ragnar, verstummte ich, weil ich nichts verstand, ich dachte, da würde sich jemand einen Scherz mit mir erlauben, bevor ich begriff, dass das ja ihr Name war, so hieß sie: Tove Ragnar.
Neben der Tür hängt ein goldenes Metallschild mit der Inschrift: Elisabet Ragnars Immobilienvermittlung.
Ich will gerade wieder gehen, als die Tür lautlos aufgleitet und Tove ins Licht blinzelt. Sie hält sich eine Hand vor die Stirn, um die Augen vor der Sonne zu schützen. Sie schaut mich lange an, mit einem merkwürdigen Blick, wie mir scheint. Dann bittet sie mich reinzukommen. »Ich bin allein zu Hause«, sagt sie.
Sie lacht laut auf.
Ich lache auch vorsichtig. Aus Höflichkeit, wie ich annehme.
»Komm rein«, sagt sie dann und zieht mich in den Hausflur.
Die Villa badet in dem Licht, das durch die großen Wohnzimmerfenster hereinströmt. Tove hat einen roten Morgenmantel an, obwohl es doch mitten am Tag ist. Ich tappe hinter ihr her durch das große Haus. Die Zimmer sind nur sparsam möbliert. Einzelne Sessel, ein Sofa mit hellblauem Bezug und braunem Leder auf den Armlehnen, das eine und andere Dekorationsstück: Glasschalen in verschiedenen blauen Farben, eine Skulptur, von der ich annehme, sie soll einen Stier darstellen. Auf einem Glastisch liegen zwei Röhrchen mit Kopfschmerztabletten.
Der Boden ist aus Holz, oder gefliest. Manchmal versinken meine Füße in Teppichen, dick wie ein Rasen. In einem der Zimmer spiegle ich mich in einem riesigen Fernsehschirm.
»Wie viel Quadratmeter habt ihr denn?«, frage ich beeindruckt. »Vierzig oder mehr?«
»Keine Ahnung«, antwortet Tove desinteressiert. Ich kann sehen, dass es bei Toves Mutter gut läuft. Ich weiß, sie ist Maklerin und verkauft Reihenhäuser entlang dem Astrakanvägen.
»Sie hat wohl viel zu tun, deine Mutter?«, frage ich. Tove nickt.
»Ziemlich«, sagt sie.
In dem Augenblick ist ein merkwürdiges Geräusch im Haus zu hören. Ein dumpfes, kurzes Rumsen. Ein sehr leises Geräusch.
»0 nein!«, ruft Tove aus. »Nicht schon wieder.« »Was ist das?«
»Ein Vogel ist gegen ein Fenster geflogen. Komm.« Sie geht zu einer Terrassentür und schiebt sie auf. Der Schnee draußen ist zur Seite geschoben worden. Noch mehr Licht strömt herein. Tove sucht mit dem Blick unter der Fensterbank. Hält eine Hand als Schutz gegen das Sonnenlicht hoch und springt mit nackten Füßen in den Schnee hinaus. Sie läuft ein paar Schritte, fischt etwas aus dem Schnee und kommt mit noch schnelleren Schritten wieder zurück.
»Hölle, ist das kalt!«, schreit sie.
Sie öffnet die Hand. Darin liegt ein kleiner grauer Vogel. Er sieht ganz lebendig aus, aber er hat die Augen geschlossen, als wollte er sich ein wenig ausruhen. Er hat einen roten Fleck auf der Stirn.
»Ist er tot?«
»Ich denke schon.«
»Was für einer ist das?«
»Ein Birkenzeisig. Der Stirnfleck ist typisch.«
»Ich habe zuerst gedacht, das wäre Blut«, sage ich. Sie hält ihn in ihrer Hand und haucht ihn vorsichtig an. Dann holt sie tief Luft, bevor sie erneut den Kopf hinunterbeugt und ihn anpustet. Haucht sie ihm wieder Leben ein? Kann man das? Kann man ihn dazu bringen, wieder zu sehen und zu hören? Kann man die Flügel dazu bewegen, wieder fliegen zu wollen? Wo verläuft die
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