Wir waren nie Freunde
unwiderstehlich Lust, sie anzufassen, also macht sie sich von ganz allein auf den Weg über die Tannennadeln, stößt auf den weichen Schlafsack, kriecht ihn hinauf und ertastet den kühlen Hals, streichelt die weiche Wange, ertastet die Lippen, das Haar, das kleine Kinn. Die Nasenspitze ist kalt wie ein Wassereis. Die Hand will in die Wärme in Toves Schlafsack hineinkriechen, sie will hinunter zu ihrem schönen Bauchnabel, aber da wird Tove unruhig, dreht sich wieder um, und die Hand erschrickt sich und eilt nach Hause.
Es donnert nicht mehr. Ich weiß nicht, wie viele Vögel um den Windschutz herum in den Bäumen sitzen, und ob es sich wirklich um Vögel handelt. Bei sieben habe ich auf- gehört zu zählen. Möchte nur wissen, was sie vorhaben. Plötzlich fühle ich etwas Kaltes an meinem Gesicht. Ich erstarre, entspanne mich dann aber wieder. Das Kalte streicht mir über die Wange, übers Haar, die Lippen und das Kinn. Ich liege vollkommen still da. Lasse zu, dass Toves Hand mich weiter streichelt. Mein Körper wird warm. Nach einer Weile kribbelt es in ihm. Ich merke, dass ich einen Steifen kriege. Ich drehe mich zu ihr. »Bist du wach?«, flüstert meine sanfteste Stimme. Tove kann nicht antworten, denn im gleichen Moment ist ein scharfes Geräusch hinter dem Windschutz zu hören. Es knackt, laut und trocken. Ich spüre, wie mein Herz heftig klopft. Alle meine Sinne sind auf das unerwartete Geräusch gerichtet. Ich richte mich halb im Schlafsack auf. Bereit zu fliehen oder zu kämpfen. Wieder knackt es. Ebenso heftig, ebenso scharf. Was zum Teufel ist das? Können das Philip und Manny sein? Das Geräusch hat etwas Bekanntes an sich. Es hört sich fast an, als entsichere jemand eine Pistole. Dieser metallische Schnapplaut, den man schon so oft im Fernsehen gehört hat. Ungefähr so klingt es. Ich spüre, dass Tove ganz still daliegt, sie hat mir ihre Hand auf den Mund gelegt. Da knackt es aus einer anderen Richtung. Und im gleichen Moment wieder aus einer anderen, diesmal direkt vor uns. Ich nehme Toves Hand und drücke sie fest. Versuche in die Dunkelheit hinauszuschauen. Für einen Augenblick meine ich einen Schatten erkennen zu können, der vorbeizieht. Aber dann weiß ich selbst, dass es unmöglich ist, in dieser Dunkelheit Schatten zu sehen.
Als die Dämmerung erneut ihre Flügel über mir ausbreitet, ist das Feuer deutlich zu erkennen.
Wie deutlich?
Das Feuer ist meine einzige Chance. Das Feuer ist ein großes Risiko.
Dieser ständige Balanceakt zwischen gesehen werden und nicht gesehen werden. Zwischen Hoffnung und totaler Hoffnungslosigkeit. Zwischen meiner Seele und meinem Fleisch.
Ich schaue mich um, denke, dass es hier aussieht wie eine Lagerstätte. Als wäre ich ein Eremit oder ein einsames Tier, das sich hier oben auf dem Berg niedergelassen hat. Ein Tier, das seine Herde sucht.
Die Luft ist jetzt kühler, feuchter, als atme mich jemand an, als stünde jemand da draußen in der Dunkelheit und wartete darauf, dass ich aufgebe!
Es scheint, als spiegelte sich das ganze letzte Jahr jetzt wider. Das ganze merkwürdige letzte Jahr.
Alles kommt zurück, immer wieder ineinander gespiegelt.
Der Anfang vom Ende? Das Geräusch knallt hinter dem Windschutz, zuerst mit langen Pausen dazwischen, immer ein paar Mal hintereinander. Dann dichter aufeinander folgend. Plötzlich ist es ein einziges Inferno von Lärm. Von dumpfem Knacken und heiserem, lang- gezogenem Zischen. Wir setzen uns auf. Ich habe eine Hand auf dem Messer unten im Schlafsack, die andere in Toves Hand.
Wir halten den Atem an und lauschen. Trauen uns nicht, uns zu bewegen, wollen es auch gar nicht. Ich meine zu sehen, dass es langsam heller wird. Die vollkommene Dunkelheit hat sich aufgelockert. Es ist, als starrte man auf eine dunkelgraue Tafel. Ich kann einzelne Konturen erkennen. Manchmal meine ich erahnen zu können, wie Schatten auf den Baum vor uns geworfen werden. Alles spielt sich hinter dem Windschutz ab. Auf dem kleinen Platz hinter uns balzen die Auerhahnmännchen, dass der Boden bebt.
Ich sehe Tove an, ja, ich kann jetzt tatsächlich ihr Gesicht erkennen. Die Konturen, das Haar, der Schlafsack, der ihr bis zu den Achselhöhlen reicht. Ich überlege, ob sie auch mein Gesicht sehen kann.
Sie nickt mir zu. Ich nicke auch. Damit sie mich sehen kann. Dann entdecke ich die Konturen eines Körpers hinter Tove und erkenne, dass auch Pia-Maria aufgewacht ist. Leise, PM!, versuche ich mit meinem Gesicht zu sagen. Kein Geräusch
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