Wir waren nie Freunde
Hand, legt sie auf ihren Bauch. Ich spüre ihre warme Haut zwischen meinen Fingern. Weich wie Seide. »Ja«, denke ich. »Ja, so ist das also. So ist es also, wenn man lebt.« Ich rieche den leichten Duft reifer Bananen, und irgendwo klingelt es, während ich meine Hand über ihren Bauch gleiten lasse. Ich will mit dem Nabel anfangen. Und ich muss leise aufstöhnen, als meine Fingerspitzen in ihr kleines Nabelloch rutschen. Dann will meine Hand die schneeweißen Hügel besteigen, und als ich sie streichle, da spüre ich, dass auch mit Tove etwas passiert, dass sie meine Hand spürt und ihr das gefällt. Anschließend will meine Hand andere Plätze untersuchen. Den kleinen Büschel zwischen ihren Schenkeln. Darauf will ich meine Hand legen. Dort soll sie liegen bleiben, auf dem, was sie ist, auf dem, was das Leben und die Wahrheit ist. Und ich höre, wie irgendwo eine Tür schlägt. Alles geschieht irgendwo anders. Hier gibt es nur sie und mich. Ich spüre, wie mein Zeigefinger langsam in einen Spalt sinkt, in den Spalt, der zur Quelle des Lebens führt, ich spüre, wie der Finger geradezu in ihrem feuchten Vogelsumpf ertrinkt, in dem es nur ganz bestimmte Vögel gibt: kleine Haubentaucher, Flussregenpfeifer und Waldschnepfen. »Ja!« denke ich. »Ja! So ist es also, wenn man lebt.« Und ich spüre, wie eine Woge der Dankbarkeit mich durchspült. Ich fühle mich glücklich, feierlich und kurz vor den Tränen, und irgendwo weit entfernt hallen Schritte auf einem Fliesenboden.
Als ich abends nach Hause komme, ist Jim sauer und mürrisch. Er will wissen, wo ich gewesen bin. Warum ich denn nicht gesagt habe, wo ich hin wollte? Ich sage nichts. Weiß nicht, was ich mir ausdenken soll. Ich bin von diesem Tag so erfüllt. Habe das Gefühl, als wäre es mein Geburtstag, ich meine, als wäre ich heute erst geboren. Vor ein paar Stunden.
Ich denke an Toves nackten Körper. Ich gehe Detail für Detail noch einmal durch, kann mich nicht satt denken. Und alles, an das ich denke, scheint sich wie eine Wärme in meinem Körper fortzupflanzen.
Jim merkt, dass ich ganz abwesend bin, und wird deshalb noch wütender.
Er brummt etwas in der Richtung, dass seine Familie ihn im Stich lasse. Dass er geplant hatte, einen schönen sunday zusammen mit uns zu verbringen, und dann ist kein Schwein zu Hause. Kristin war beim Sport und hat hinterher Ulla mitgebracht. Kristin hatte zwei Kartons mit Pizza dabei. Aber Jim will keine Pizza. Nicht am Sonntag. Manchmal kann er so kindisch wütend und beleidigt sein, wie die Väter es in amerikanischen Filmen sind. Das ist mir in den Kopf gekommen. Dass manchmal der Unterschied doch zu merken ist.
Ich weiß nicht, was ich tun soll, also blättere ich in den Papieren, die auf der Arbeitsplatte liegen. Ich stoße auf einen ungeöffneten Brief vom Kinderhilfsfonds der UN, UNICEF, den ich mit dem Zeigefinger aufreiße. Er handelt von Ländern, in denen Krieg herrscht und in denen Kinder zu Schaden kommen. Ich lese, dass in Ruanda Krieg herrscht. Und dass Kinder in Bosnien, Mozambique, im Irak, Iran, in Sri Lanka, Burundi, Israel und Palästina nicht sicher leben können. Ich komme auf neun Länder. Ist das viel oder wenig? Ich weiß es nicht. Wie viele Länder gibt es überhaupt?
»Hast du Hunger?«, fragt Kristin.
Ich lege den Brief wieder hin, der mit den Worten endet: Mit freundlichen Grüßen vom Schwedischen UNICEFKomitee. Ich nicke, werfe einen Blick auf die Uhr und sehe, dass es fünf nach acht ist. Draußen ist es dunkel. Ich höre, dass es regnet. Als ich das letzte Mal hinausguckte, da badete die Welt im Licht.
Ich schneide ein Stück Pizza ab und lege es auf einem Teller draußen für den Igel hin.
Nach diesem Tag bin ich nur Luft für Tove. Ich kapiere gar nichts. Ist sie sauer auf mich? Habe ich etwas gemacht, was ich nicht hätte tun dürfen? Oder sind Mädchen nun einmal so? Ist sie wie PM, die mit allen Jungs zusammen ist, die es nur wollen?
Oder: Habe ich alles nur geträumt? Manchmal habe ich das Gefühl, als ob alles, was geschieht, gar nicht wirklich geschieht. Nicht hier und nicht jetzt. Vielleicht irgendwo anders. Vielleicht in dem Traum von irgendjemandem. Tove entgleitet mir einfach. Sie sieht mich kaum. Mein armer Kopf ist voll mit schmutzigen Vögeln, voller Haubentaucher, Flussregenpfeifer und Waldschnepfen. Ich kann an nichts anderes denken.
Als wenn jemand eine Pistole entsicherte Ich höre, wie Tove sich auf den Kiefernzweigen umdreht, und da kriegt meine Hand
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