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Wir waren nie Freunde

Wir waren nie Freunde

Titel: Wir waren nie Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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sammeln. Ich erinnere mich daran, wie Knochen sich anfühlen, wie Arme, Hände und Füße sich ins Gedächtnis rufen lassen. Wie der Rücken sich anfühlte, als er noch da war, als er noch Rücken war. Merkwürdig, dass man seinen Körper erst spürt, wenn er nicht mehr da ist. Wenn er einen verlassen hat.
    Immer wieder versinke ich in Schlaf. Das ist ein schönes Gefühl. Als würde ich von zwei Lichtgestalten fortgetragen. Ich spüre, wie ich über den Bäumen schwebe, über etwas, das ein großer Wald sein muss, wie ich endlich irgendwohin gelange.
    Dann wache ich erneut auf. Die kalte Luft in den Nasenflügeln. Dadurch merke ich, dass die Nasenflügel immer noch funktionieren. Ich möchte wissen, ob das der einzige Teil von mir ist, der noch intakt ist.
    Ich schaue mich um. Das eine Auge funktioniert besser als das andere. Mal sehe ich etwas, mal nichts. Das erscheint mir merkwürdig. Dass ich einfach nur hier liege. Irgendetwas riecht, und wenn ich nur einen Körper hätte, dann würde ich ihn vorsichtig umdrehen und nachsehen, woher der Geruch kommt.
    Ich sehe mich mit meinem gesunden Auge um. Sehe niemanden, sehe nichts. Ich sinke wieder zurück, sinke hinunter, fort. Zu den Lichtgestalten, zu denen, die mich kennen, die meine Freunde sind. Ja, jetzt erkenne ich sie wieder. Meine einzigen Freunde. Jetzt kommen sie mir entgegen. Es sieht so aus, als würden sie mich nicht mehr kennen. Ich begrüße sie von neuem. »Hallo Philip«, sage ich. »Hallo Tove, my love!«
    Eine alte Frau kommt mir entgegen. Sie trägt helle Kleider, und ich weiß, das muss Karin Boye sein. »Hallo!«, rufe ich. »Ich schreibe gerade in der Schule eine Arbeit über Sie.« Ihr Haar ist dunkel, und ich zeige darauf und sage, dass das doch nicht sein kann. Schließlich ist alles Dunkle weg. Aber sie schüttelt nur den Kopf und lächelt mir zu. Da sehe ich, dass es nicht Karin Boye ist, sondern Toves Großmutter. »Hallo Kim«, sagt sie. »Das Dunkle ist nicht weg. Noch nicht. Vielleicht eines Tages. Wenn du und ich tot sind. Aber jetzt noch nicht.« Ich will etwas einwenden, sagen, dass sie sich irrt, denn ich habe doch den Augenblick erlebt, in dem sich alles veränderte. Als eine Welle aus Wärme und Licht über die Welt schwappte und uns mitriss.
    »Nein, Kim. Du hast das so empfunden. Du warst auf dem Weg. Aber du bist stehengeblieben. Du sollst weiter im Dunkel bleiben.« »Nein!«, rufe ich. Da entdecke ich, dass sie eine Schüssel in der Hand hat. Die ist voll mit Farbe, mit roter Farbe. Sie geht einen Schritt auf mich zu, und als ich mich hinunterbeuge, gießt sie den Inhalt der Schüssel über mir aus. »Du sollst noch hierbleiben, Kim«, sagt sie.
    Ein Geruch drängt sich mir langsam auf. Ich meine ihn wiederzuerkennen, weiß ihn aber nicht zu benennen. Ich liege ganz still. Öffne mein gesundes Auge. Versuche das Wort zu dem Duft zu finden. Sehe niemanden, sehe nichts. Da merke ich, wie ich unendlich langsam den Kopf drehe. Er bewegt sich ein kleines bisschen. Ein paar Zentimeter. Heißt das Zentimeter? Ich weiß es nicht. Ich keuche vor Anstrengung. Als ich wieder mein gesundes Auge öffne, sehe ich, dass die rote Farbe in meinem Schoß liegt. Natürlich ist sie da gelandet. Ich versuche sie aufzunehmen, aber ich habe keine Arme. Ich verschwinde für eine Weile, werde wieder von dem Duft in der Nase geweckt. Der Kopf liegt immer noch in der neuen Stellung. Das Auge starrt auf die Farbe. Ich schließe das Auge. Öffne es erneut. Das Rote ist immer noch da. »Es gibt Farben«, denke ich. »Die falschen Farben sind immer noch da!«
    Die Zikaden zirpen laut über meinem Kopf. Wenn ich den wieder drehen könnte, sollte es mir möglich sein, sie zu sehen. Ich habe den Eindruck, als schwebten sie über mir. Ich versuche den Kopf nach oben zu wenden, aber das geht nicht. Ich gebe bald auf. Etwas sperrt sich dagegen. Etwas tut sehr, sehr weh. Ich bin überrascht. Können das Schmerzen sein? Bin ich wieder zurück über die Schmerzgrenze gegangen? Mein gesundes Auge hält Ausschau. Sieht das Rote, all das Rote, das ich im Schoß halte. Sieht etwas Dunkles im Augenwinkel. Was ist das Dunkle denn? Da kommt dieser Geruch zurück. »Rauch«, denke ich. Könnte es so heißen? Ja, schon möglich.
    Das Rote ist auf die Erke gelaufen. Da hat sich ein großer See gebildet. Heißt das Erke? Ich weiß es nicht, woher soll ich denn auch alles wissen?
    Da sieht mein eines Auge die dunkle Farbe wieder. Ich kann meinen Kopf eine Spur drehen, etwas

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