Wir waren nie Freunde
vieren krieche ich vom Lager weg. Ich muss mich langsam bewegen, denn jede Bewegung löst eine Schmerzwelle aus; vom Rücken her, wo etwas gebrochen sein muss, vom Kopf und Nacken her, die glühend-heiße Notsignale aussenden. Vom Bauch her spüre ich nichts, und das beunruhigt mich am meisten. Ich habe mit einer kaputten Isomatte, die ich mir mit dem BH um den Körper gewickelt habe, eine Art Druckverband gemacht. Ich weiß nicht, ob das etwas nützt. Ich weiß nicht, was in meinem Bauch passiert ist. Ob ich noch einen Magen habe.
Ich bewege mich wie ein vierbeiniges Tier, zwischen Steinen und Grasbüscheln, über den weichen Moosteppich. Tappe vorsichtig den Berg hinunter. »Wasser«, denke ich, »ich brauche Wasser!«
Ich habe einen Plan gemacht. Das ist das Wichtigste. Wenn alles zum Teufel geht, dann muss man einen Plan aufstellen. Man muss nachdenken. Die hoffnungslose Zukunft in winzigkleine Stückchen aufteilen, nicht größer als eine zerrissene Kioskquittung. Und dann beschließt man, dass der erste Schritt sein muss, der Katastrophe selbst einen Verband anzulegen. Das kann einen halben Tag oder noch länger dauern. Die Zeit spielt keine Rolle. Denn sonst leckt die Katastrophe und läuft aus. Später, denkt man, kommt Schritt Nummer zwei, das muss Wasser sein. Wasser zu trinken. Das kann auch eine ganze Weile dauern. Aber das muss gemacht werden. Auch wenn man sich kaum bewegen kann, so muss es passieren. Man muss es auf seiner Liste abhaken. Erst Punkt eins abstreichen, und dann Punkt zwei. Und wenn man Punkt eins und Punkt zwei geschafft hat, dann ist man schon ziemlich weit gekommen. Dann heißt es schließlich Punkt drei anzupacken. Ich habe beschlossen, dass Punkt drei heißen soll: »Essen besorgen.« Essen. Das ist auch wichtig.
Ich denke, wenn ich die ersten drei Punkte schaffe und hinterher immer noch am Leben bin, dann gibt es vielleicht noch einen schwachen Streifen Hoffnung. Dann kann ich zu Punkt vier übergehen: »die Fortsetzung«. Wie ich von hier wegkommen kann.
Aber jetzt krieche ich erst einmal auf allen vieren den Berg hinunter, wie das langsamste Tier des Waldes. Ich halte mich an Punkt zwei: »Wasser.« Ich denke, was für ein verdammtes Glück es für mich ist, dass Jim mit in Vietnam war und mir erzählt hat, was man tun muss, wenn plötzlich alles dunkel wird und man einsam im Busch landet.
Als ich unten beim Moor angekommen bin, bin ich so erschöpft, dass ich nur noch zusammensinke und ein schlafe. Als ich aufwache, hat die Dämmerung schon eingesetzt. »Verdammt nochmal«, denke ich. »So ein Mist! Punkt zwei hätte ich besser tagsüber erledigt. Jetzt ist es vielleicht gar nicht möglich.« Ich fühle mich mit einem Mal gestresst und krieche zum Sumpfwasser. Das Wasser schlägt mir eiskalt gegen die Beine, aber ich spüre es kaum. Ich forme eine Hand zu einer Schale, fülle sie mit Wasser und sehe, wie es sich rot färbt. Ich trinke es. Fülle die Hand wieder. Trinke gierig die braunrote Flüssigkeit. Ich fühle mich wie ein Wüstentier, das nach mehrtägiger Wanderung eine Wasserstelle gefunden hat. Ich trinke so lange, dass die Dunkelheit es schafft, sich in der Zeit schwer über den Wald zu legen.
Dann fülle ich meine Taschenflasche und befestige sie umständlich am Gürtel. Ich ruhe eine Weile aus, bevor ich das schmerzhafte Kriechen zurück den Berg hinauf antrete.
Nach jedem Meter muss ich anhalten und ausruhen. Das dauert seine Zeit, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Die Zeit ist jetzt nicht wichtig. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, aber trotzdem fällt es mir schwer, etwas zu sehen. Manchmal stoße ich gegen einen Baum oder einen Stein. Ich meine etwas anderes sich bewegen zu hören. Ich halte an und lausche. Meine, das Geräusch von schweren Schritten im Wald zu hören. »Ein Tier«, denke ich. »Ein anderes Tier.«
Als ich weitergehe, fühle ich etwas Weiches unter der rechten Hand. Ich taste mit den Fingern und erkenne, dass ich in Elchlosung gegriffen habe. Ein paar Sekunden lang überlege ich. Dann sammle ich die Losung auf und stopfe mir damit die Taschen voll.
Als ich den Bergkamm erreiche, ist es immer noch dunkel. Das wundert mich. Ich habe es geschafft, in weniger als einer Nacht den Berg hochzuklettern. Mit letzter Kraft gelange ich zum Windschutz, krieche ein Stück darunter und falle in Schlaf.
Als ich aufwache, ist es hell. Meine Augen registrieren ein graues, fast rauchfarbenes Licht, das ich als Morgendämmerung deute.
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