Wir waren unsterblich (German Edition)
herausfordernd an. Ich sprang auf und kotzte ins Gebüsch. Die drei sahen schweigend zu. Markus reichte mir ein nicht mehr ganz sauberes Papiertaschentuch. Ich kämpfte einen Moment mit einem Schwindelanfall und erzählte alles.
„Wir müssen etwas tun. Mit jemandem reden. Mit ...“ Markus überlegte. „Mit unseren Eltern. Oder mit diesem Jugendamt.“
„Und was sollen wir denen sagen?“ Leo vergaß vor Aufregung sogar, seine Zähne zu verstecken. „Dass der Scheißkerl Töffel an die Wäsche geht? Wir haben keine Beweise.“
„Aber Töffel ...“
„Der wird die Klappe halten“, wurde Markus von Hilko unterbrochen. „Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn er von allen möglichen Leuten gelöchert wird. Das ist mehr als peinlich. Und am Ende ist er sowieso der Dumme.“
„Was ist mit der Tante?“, fragte ich.
„Willst du die etwa fragen?“
Ich sah ratlos in die Runde. „Was sollen wir denn sonst machen?“
„Wir bringen ihn zum Lichtlosen.“
Leo, Markus und ich sahen Hilko entgeistert an. Er verzog keine Miene und erläuterte uns seinen Plan.
„Es ist eine Sucht“, behauptete er. „So einer ist verrückt nach kleinen Jungen. Da hilft keine Polizei, keine Bestrafung. Wir müssen dafür sorgen, dass er Töffel nicht mehr anpackt. Wir allein!“
Hilko wollte den Graukittel in eine Falle locken. Auf den Bauernhof, in den Keller, in das Reich des Lichtlosen und ihm dort eine Lektion erteilen, die er nie vergessen würde.
„Wir werden ihn dort unten einsperren. Bis er es kapiert hat.“
„Willst du ihn da festbinden und ihn foltern und so?“, fragte Markus.
„Wenn er einmal da ist, machen wir dicht und er kommt nicht mehr raus. Stimmt’s?“ Hilko nickte mir auffordernd zu. Ich war mir nicht sicher, ob das dunkle und nach Champignons riechende Gewölbe auf einen Mann mit so großen Händen denselben Eindruck machen würde wie auf mich. Kannte so einer überhaupt Angst? Er würde nach einem abendlichen Schwarzweißfilm über Vampire einfach aus seinem Bett steigen, als wäre es die Kinderstunde mit Pan Tau gewesen und pinkeln gehen. Davon erzählte ich nichts, sondern beschränkte mich auf: „Das reicht nicht aus.“
„Du vergisst den Kühlschrank“, grinste Hilko.
Der Kühlschrank! Der stand hinter der Scheune, versank zusehends im Morast, rostete und seine Gummidichtungen verfärbten sich von der Feuchtigkeit grün.
Ein Kühlschrank ist immer interessant. Das heißt, eigentlich sein Inhalt. Und in einem Kühlschrank, den irgendjemand hinter einem verlassenen Bauernhof in den Schlamm geschleppt hatte, vermuteten wir natürlich etwas ganz Besonderes. Wir waren nicht enttäuscht worden. Er war zwar kein geheimes Drogen- und Geldversteck, wir fanden auch keine Leichenteile, wie Markus vorausgesehen hatte, sondern zerknitterte, klamme Heftchen mit vielen Fotos und wenig Text.
Ich sah das erste Mal in meinem Leben Pornos. Nicht die Bilder von halbnackten Frauen, die ich heimlich in den Illustrierten meiner Eltern aufblätterte. Rubrik: Mädchen von nebenan oder Das Spindfoto für unsere Jungs vom Bund .
Nein, in den Kühlschrank-Heftchen machten sie es wirklich. Die Frauen mit blauen Lidschatten und schlecht sitzenden Perücken, die Kerle mit Bierbäuchen und schmutzigen Fingernägeln. Hilko und Markus nahmen ein paar Mal einige Magazine mit nach Hause. Wir anderen trauten uns nicht. Leos Mutter – die strenge Ausführung von Timmys Mutter aus der Fernsehserie Lassie – würdeihren Sohn vermutlich in ein Erziehungsheim stecken oder ihm zumindest zehn Jahre Stubenarrest verpassen, wenn sie die Pornos bei ihm entdeckte.
Im Laufe der Zeit verloren die Hefte ihren Reiz. Sie vergammelten in dem Kühlschrank, vergessen von ihrem ehemaligen Besitzer und auch fast von uns. Obwohl es mich schon interessierte, wie sie dort hinein gelangt waren. Vielleicht gehörten sie einem der Älteren, die sich gelegentlich auf dem Bauernhof zum nächtlichen Saufen trafen.
„Wir locken den Typen in den Keller, legen dort vorher die Pornos hin und – Knips! – machen ein Foto, wie er sich die Dinger ansieht.“
Leo hob fragend die Hand. „Du willst ihn mit den Fotos erpressen? Ich glaube, Erwachsene dürfen sich sowas ansehen. Ist doch so, oder?“
Hilko antwortete nicht sofort. Er kramte einen ledernen Tabaksbeutel – seine neueste Errungenschaft – hervor und drehte sich eine Zigarette. Ich bemerkte zum ersten Mal, dass sich Daumen und Zeigerfinger seiner rechten Hand vom Nikotin
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