Wir waren unsterblich (German Edition)
unmissverständlich: Du Feigling!
„Du hast Recht“, gab ich nach. „Wir täuschen uns nicht. Auf gar keinen Fall.“ Ich rief mir Graukittels Gesicht in Erinnerung, seine rastlosen Hände, den Schweißtropfen an seiner Nasenspitze. Und dieses kaum sichtbare Grinsen. Jemand musste es ihm austreiben. Aber ich bezweifelte, dass wir dazu in der Lage waren.
„Ich möchte über die Sache eine Nacht schlafen“, teilte uns Leo plötzlich mit. „Und falls ich mitmache, verlange ich, dass Töffel vorher gefragt wird. Ritsch hat Recht: Es geht nur mit seiner Zustimmung.“
Am nächsten Morgen saß Töffel wieder auf seinem Platz. Ich musterte verstohlen die dunklen Ränder unter seinen Augen, die immer da waren, heute jedoch ausgeprägter als je zuvor und dachte, dass er eigentlich gar nicht mehr so jung aussah. Nur sein zarter Körper machte ihn noch zum Kind, aber die Augen schauten viel zu ernst für einen Vierzehnjährigen. Obwohl Töffel den monotonen und zusätzlich mit Kreide an die Tafel gequietschten Ausführungen unseres Deutschlehrers über Grammatik folgte, spürte er meinen Blick. Er wandte den Kopf, lächelte zaghaft und winkte mir zu.
„Ich mache es“, flüsterte Leo neben mir. Ich bin mir nicht sicher, ob ihn Töffels Lächeln – hilflos und voller Scham, als wüsste er über unsere Überlegungen ganz genau Bescheid, obwohl wir noch kein Wort zu ihm gesagt hatten – dazu brachte oder ob Leo den Entschluss schon Stunden zuvor gefasst hatte.
Ich mache es!
Jetzt hing es nur noch von Töffel ab.
Es war meine Idee, erst am Nachmittag mit ihm zu reden. Ich hatte Angst davor, wie er reagieren würde. Vielleicht würde er einfach davonrennen. Ich rechnete mit dem Schlimmsten und dennoch gelang es Töffel, uns alle in Erstaunen zu versetzen.
Er stand da, sah seinen Füßen dabei zu, wie sie sich in den feuchten Sand des Spielplatzes bohrten, und schwieg.
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, dabei waren es vielleicht nur ein oder zwei Minuten.
Hilko hatte ihm von unserem Plan erzählt. Auf eine sehr behutsame Art, wie ich fand. Keiner von uns hätte es besser machen können. Hilko war unser Redner, ich der Erzähler. Aus seinen Augen zuckten diesmal keine zornigen Blitze, seine Stimme klang beherrscht. Nicht wie am gestrigen Tag, als er glaubte, uns überzeugen zu müssen.
Als Hilko begann, hatte Töffel uns entsetzt angesehen und dann den Blick gesenkt. Auf den Sand und seine Füße. Er protestierte nicht, wiegelte nicht ab, beschimpfte uns nicht als Spinner und bewies damit, dass wir richtig lagen.
Für einen Moment verspürte ich den Drang, ihn in den Arm zu nehmen oder wenigstens zu berühren. Aber so etwas taten wir nicht. Wir waren Jungen, glaubten bald Männer zu sein.
„Sie liebt ihn“, flüsterte Töffel ohne aufzusehen.
„Was?“, fragte Markus irritiert.
„Meine Tante. Sie liebt ihn“, erwiderte Töffel etwas lauter. „Er kommt fast jeden Tag zu uns. Am Abend bleibt er dann meistens länger.“ Er sah mich kurz an. „Deshalb kann ich abends nicht fernsehen.“
Hilko stand auf und zündete sich eine Zigarette an. Ich ahnte, warum er die Parkbank verlassen hatte. Wir hockten vor Töffel wie vier Ankläger.
Markus öffnete den Mund zu einer Frage, brachte aber nur ein „Ööh“ hervor, denn Töffel sprach von sich aus weiter. „Ich höre sie dann. Sie ...“ Er schluckte und stieß, nein, spuckte dann ein Wort aus, das jeder von uns jeden Tag immerzu gebrauchte. Aber nicht Töffel.
„ ... ficken!“
Keiner lachte.
„Wenn meine Tante schläft, steht er auf. Ihr müsst wissen, dass sie Schnaps trinkt, wenn Eugen da ist. Weinbrand und so.“
Graukittel hatte nun auch einen Namen: Eugen.
„Und dann?“, fragte Leo.
„Dann kommt er rüber. Er steht vor meiner Tür. Früher stand er immer nur auf der anderen Seite. Ich hörte ihn atmen. Doch vor einem Monat öffnete er die Tür und sah zu mir rein. Mindestens eine halbe Stunde. Ein paar Tage später kam er in mein Zimmer. Vorgestern stand er vor meinem Bett. Er trug nur einen Bademantel und glotzte und glotzte ...“ Töffel brach ab, richtete den Blick wieder auf den Sand.
„Und dann?“, fragte Leo erneut.
„Bisher tat ich immer so, als würde ich schlafen, aber diesmal konnte ich nicht anders: Ich sprang auf und warf dabei meine Nachttischlampe um. Peng! Davon ist meine Tante wachgeworden und rief: Eugäähn! Da ist er abgehauen.“
Töffels schmale Schultern zuckten, er stieß leise, glucksende Laute aus. Eine
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