Wir waren unsterblich (German Edition)
metallischen Ächzen in Bewegung. Die Aufzugtür teilte sich. Wir starrten in die kleine, neonbeleuchtete Kabine. Graukittel starrte zurück. Ich wusste sofort, dass es kein Zufall sein konnte. Vielleicht hatte er die ganze Zeit auf uns gelauert. In der Hoffnung, dass wir auf unserem Rückweg den Fahrstuhl benutzten. Jungen stehen doch auf alles Technische.
Aus seiner rechten Kitteltasche ragte ein Schraubenzieher mit rotem Plastikgriff. Ich stellte mir vor, wie er im Parterre in der Kabine hockte, so tat, als würde er ganz wichtig herumschrauben, um jeden Mieter abweisen zu können. Mit dem Ziel, dass der Aufzug irgendwann aus der dritten Etage angefordert wurde. Von uns.
Ich bildete mir ein, seine Gedanken lesen zu können. Er wusste: Wir konnten ihm auf keinen Fall entkommen. Wenn wir die Treppe nahmen, hätte er uns im Flur abgefangen.
Sein Gesicht war regungslos, verriet nichts. Nur seine Lippen presste er so fest zusammen, dass sie wie zwei nass glänzende Maden aussahen. Stirn und Halbglatze waren von einem Schweißfilm bedeckt. Im Aufzug war es warm, ein Geruch von Urin und Nikotin drang aus der Kabine.
Leo machte einen Schritt nach vorn und überschritt die Schwelle. Ich folgte ihm, konnte ihn unmöglich allein lassen, obwohl ich eigentlich nur noch aus der Nähe des Mannes verschwinden wollte. Meine Hand fuhr zur Leiste mit den Knöpfen für die einzelnen Etagen, doch ehe ich auf E für Erdgeschoss drücken konnte, kamen mir die schwieligen Finger des Hausmeisters zuvor.
8! Er wählte die achte Etage. Mit einem Ruck fuhr der Aufzug in die Höhe. Der Mann nutzte die plötzliche Bewegung, um sich ein paar Zentimeter näher an uns heranzuschieben. Hoppla! Und ganz zufällig. Ein Schweißtropfen sammelte sich unter seiner Nasenspitze. Leo stand neben mir, kaute mechanisch auf seinen Schogetten und ließ das großporige Gesicht vor sich keine Sekunde aus den Augen. Er umklammerte die Schokoladenschachtel, und um für mich oder den Mann den Eindruck zu erwecken, als wäre die Situation völlig normal, kramte ich umständlich ein Stück heraus.
Der Mann schwieg, seine Lippen blieben zwei pralle Maden. Der Tropfen löste sich unendlich langsam von der Nase und fiel zu Boden. Hinter mir vibrierte ein loses Blech im Rhythmus der Stahlseile und Winden und übertönte das leise Platsch! Die linke Hand des Hausmeisters war zu einer Faust geballt. Die rechte steckte in der Kitteltasche, bewegte sich dort wie ein gefangenes Tier. Sein kariertes Hemd spannte sich über dem Bauch. Zwischen Hemd und Hosenbund quollen ein paar Zentimeter wabbeliges Fett heraus.
Die Schokolade lag in meinem Mund und begann zu schmelzen. Ich wagte es nicht zu kauen. Wollte nicht das geringste Geräusch verursachen.
Die Lippen vor mir entspannten sich und verzogen sich zu einem kaum wahrnehmbaren Grinsen.
Der Aufzug stoppte. Ich schwankte und suchte Halt, um auf keinen Fall den Mann zu berühren. Die Tür öffnete sich. Niemand wartete in der achten Etage. Graukittel stieg nicht aus.
Ich hatte Recht! Er hatte auf uns gewartet!
Seine rechte Hand entwickelte ein gespenstisches Eigenleben, wütete in der Kitteltasche wie losgelöst vom Rest des Körpers, schüttelte irgendetwas, erzeugte dabei ein hohles Rascheln.
Ich spürte einen sanften Druck. Leo drängte mich in Richtung Ausgang. Doch der Mann war wieder schneller. Er schob sich vor die Tür, wandte uns den Rücken zu und tippte energisch auf die 3.
Die Tür schloss sich erneut. Abwärts!
Er drehte sich erst wieder zu uns um, als sich die Kabinentür öffnete. Er trat in den Flur und holte aus der Tasche jenen Gegenstand hervor, den er dort während der ganzen Zeit gedrückt, gewendet und geschüttelt hatte.
Eine Packung Schogetten. Blau. Vollmilch. Zuerst dachte ich, er wollte sie uns schenken.
Der böse Onkel, der die kleinen Jungen mit Schokolade lockt.
Leo schubste mich beiseite und drückte auf Erdgeschoss. Der Mann bewegte sich zielstrebig auf die Wohnung von Töffels Tante zu. Die Schokostücke raschelten. Die Tür schloss sich, der Aufzug ruckte. Ich spuckte angeekelt den Rest der Schogette gegen die Wand.
Wir trafen uns mit Hilko und Markus auf einem nahen Spielplatz. Viel zu nah, wie ich fand.
„Er kann uns von da oben sehen!“
Hilko warf einen verwunderten Blick auf das Hochhaus und humpelte mit seinem Stock voran. Wir hockten uns an den Rand eines Bolzplatzes. Dort jagte ein Dutzend kleiner Jungen einem bunten Plastikball hinterher.
Hilko sah uns
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