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Wir waren unsterblich (German Edition)

Wir waren unsterblich (German Edition)

Titel: Wir waren unsterblich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimon Weber
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selben Abend legte Charlie nach. Vor der Begegnung auf dem Bauernhof nahm ich an, dass er uns bisher kaum wahrgenommen hatte. Er raste mit waghalsigen Manövern auf seinem frisierten Moped durch die Siedlung, ohne die Jüngeren eines Blickes zu würdigen. Ab und zu sah man ihn mit einem Mädchen oder er hing vor dem Supermarkt mit ein paar schrägen Typen ab. Aber ich hatte mich getäuscht: Charlie wusste Bescheid. Wahrscheinlich kannte er jeden unserer Namen samt Adresse. Ich stellte mir vor, wie er in all den Jahren sein Umfeld beobachtete, um im passenden Moment zuzuschlagen. Der kam, als Markus und ich wie zwei Volltrottel am hellichten Tag aus Grundmanns Opel stiegen. Vier Stunden, nachdem Leo versucht hatte, ihn davon zu überzeugen, dass es keinen Grund mehr für eine Erpressung gab, klingelte bei Töffels Tante das Telefon. Sie nahm ab und am anderen Ende der Leitung verlangte Charlie bestimmt, aber nicht unfreundlich ihren Neffen sprechen zu wollen. Sie blieb nur wenige Meter von Töffel entfernt stehen und musterte ihn skeptisch, während er atemlos Charlies Worten lauschte. Charlie drohte ihm, alles auffliegen zu lassen, wenn wir noch mal so eine Show wie am Nachmittag abzogen. Aber vorher würde er ihm noch sehr, sehr wehtun. Aber so, dass man es an allen Teilen seines Körpers, die aus den Klamotten herausragten, nicht sehen konnte. Aber darunter – und besonders in Töffels Hose – gäbe es einen Totalschaden. Töffel erzählte uns von dem Anruf am nächsten Morgen in der Schule. Ich stellte mir vor, wie er unter den Augen seiner Tante mühsam um Fassung rang, während Charlie ihm Angst machte. Töffel lag die ganze Nacht wach, konnte keinen von uns anrufen, weil seine Tante das mitbekommen hätte. Seit Grundmanns Verschwinden war sie ohnehin wie aufgedreht. Töffel hatte ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, einfach abzuhauen. Egal wohin. 36 Mark und fünfzig Pfennig überreichte er uns. Sein ganzes Erspartes. Wir mussten ihm versprechen, alles zu tun, was Charlie verlangte. Töffel würde alle seine Sachen verkaufen, Zeitungen austragen, alles mögliche, um an Geld zu kommen.
    Am Nachmittag lieferte Hilko das Geld bei Charlie ab. Er hielt es für klüger, allein zu gehen. Keiner von uns widersprach ihm. Charlie war zufrieden und sagte ihm, dass er am nächsten Tag nur 15 Mark wollte. Als Zeichen guten Willens.

    Es war fast neun, als meine Mutter an meine Zimmertür klopfte. Hilko sei am Telefon. Wenn er um diese Uhrzeit bei uns anrief, musste etwas wirklich Außergewöhnliches vorge-fallen sein. Unser Telefon stand im Wohnzimmer. Hilkos atemlose Stimme musste gegen Wim Thoelkes lahmen Dialog mit dem gezeichneten Hund Wum antreten. Meine Eltern saßen vor einem Teller mit Schnittchen. Sie warteten nur darauf, dass im Ersten endlich Columbo anfing.
    „Ja ... gut ... ich komme“, war alles was ich zu Hilko sagte. Ruhig und gelassen wollte ich wirken. Meine Eltern durften auf keinen Fall mitbekommen, dass mein Verstand plötzlich in eine Achterbahn gestiegen war. Beinahe wäre mir der Hörer aus der Hand gefallen. Kurz vor dem Aufprall auf dem Parkett fing ich ihn auf. Mein Vater warf mir einen skeptischen Blick zu. Meine Mutter gähnte und der untersetzte Quizmaster auf dem Bildschirm breitete die Arme aus, als wollte er uns alle an sein blaues Jackett drücken.
    „Ich muss noch kurz weg.“ Meine Stimme klang für mich ganz blechern. „Zu Hilko.“
    „Mmm“, machte mein Vater.
    „Ich muss ihm ein Buch bringen, dass er unbedingt zum Lernen braucht. Er schreibt morgen eine wichtige Arbeit.“
    „Der hat bessere Noten als du, was?“, bemerkte mein Vater. Meine Mutter biss in eine Gewürzgurke. „Aus dem wird bestimmt mal was“, verkündete sie kauend, als ich schon längst im Flur war.
    Wir wohnten alle in der Gartenvorstadt, Leo nur einen Katzensprung von mir entfernt. Ich zögerte, bei ihm anzuschellen. Seine Mutter würde mich vermutlich noch nicht einmal zu ihm lassen. Aber als ich in den Weg zu dem Reihenhaus seiner Eltern spähte, kam er mir bereits entgegen. „Hilko rief an“, keuchte er, während wir liefen. „Zum Glück sind meine Eltern bei Verwandten.“
    Wir sahen den Widerschein der Lichter an den Hauswänden, als wir die Eichenstraße erreichten. Ein paar hundert Meter vor uns – da, wo die Eichenstraße in die Ahornstraße mündete – standen mehrere Fahrzeuge. Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht, ein Krankenwagen. Ein halbes Dutzend Autos staute sich vor ihnen. Es

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