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Wir waren unsterblich (German Edition)

Wir waren unsterblich (German Edition)

Titel: Wir waren unsterblich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimon Weber
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gab kein Durchkommen. Der Fahrer eines verrosteten Simcas wendete gerade umständlich und holperte dabei über die Bordsteinkante. Viele Leute standen herum und reckten ihre Hälse. In den umliegenden Häusern lagen Neugierige in den Fenstern. Das Zentrum des Fahrzeugpulks bildete ein grauer Laster. Er stand ein wenig schräg, als hätte der Fahrer beim Bremsen das Lenkrad nach rechts gerissen. Wir entdeckten Hilko und Markus. Markus´ Eltern standen neben ihnen. Seine Mutter hielt sich die Hände vor den Mund und schüttelte den Kopf. „Ist das nicht schrecklich!“, schluchzte sie, als wir näherkamen. „Ist das nicht furchtbar schrecklich!“
    „Er ist schon weg“, sagte Hilko zur Begrüßung und deutete auf die Straße. Der graue Laster war ein Magirus. Auf dem Kühlergrill seiner wulstigen Motorhaube prangte als Firmenzeichen eine silberne Rakete. Er schien völlig unbeschädigt. Nur an der Seite entdeckte ich ein paar grüne Farbspuren. Die stammten von Charlies Moped. Die Zündapp lag einen Meter vor dem Magirus in einer zähen Pfütze aus Öl und Benzin. Sie sah aus wie ein zertretenes Insekt. Das Vorderrad war mit der Gabel nach hinten gedrückt worden. Der Rahmen schien verdreht, als wäre er unter großer Hitze geschmolzen, um dann beim Erkalten nicht wieder zur alten Form zurückzufinden. Die Wucht hatte den Zylinderkopf abgerissen. Ein Polizist drehte den Klotz aus Grauguss prüfend in seinen Händen. Aufgebohrt, frisiert, das Moped war viel schneller als erlaubt, würde man feststellen.
    „Was ist mit Charlie?“, fragte ich Hilko.
    „Ich hörte ein Krachen, dachte mir aber erst nichts dabei. Kurz darauf kamen dann Polizei und Krankenwagen mit großem Trara. Da bin ich hingelaufen. Ich sah noch, wie sie Charlie einsammelten, dann rief ich euch sofort an.“
    Neben ihm beobachtete Markus schweigend die Szenerie.
    „Ist er da drin?“ Leo deutete auf den Krankenwagen. Die Hecktür war nur angelehnt. Hinter den Milchglasscheiben konnte man die Umrisse von zwei oder drei Gestalten ausmachen.
    Hilko schüttelte den Kopf. „Da drin ist der Lastwagenfahrer. Der steht unter Schock. Charlie haben sie schon mit einem anderen Wagen weggebracht.“
    „Und?“, fragte Leo. „Wie sah er aus?“
    Markus deutete auf die zerquetschte Zündapp. „So ähnlich.“
    Ich entdeckte das Mädchen mit dem verwaschenen US-Shirt unter den Umstehenden. Charlies Schwester bohrte in der Nase und schien nicht zu verstehen, was hier passiert war. Ihr Blick war völlig leer.
    „Das musste ja mal so kommen“, brummte Markus´ Vater. Die Schweißperlen auf seiner Halbglatze glitzerten im Laternenlicht. „Dieser Bursche fuhr wie ein Verrückter.“ Ein Mann neben ihm brummte zustimmend. „Genau. Ich hätte ihn schon mal fast über den Haufen gefahren.“
    Hilko beugte sich mir hinab. „Er ist garantiert tot. Jede Wette.“
    Leo konnte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken. „Das ist doch unglaublich. Scheint, als wären wir doch noch aus dem Schneider.“
    „Schicksal“, murmelte Hilko.
    Charlie und seine Zündapp waren in unserem Stadtviertel bekannt wie ein bunter Hund, aber niemand der Schaulustigen schien über seinen Unfall auch nur im geringsten betroffen. Mal abgesehen von Markus´ Mutter. Aber die versuchte sogar, die Fliegen, selbst die schillernden Brummer, aus Mitleid aus dem Fenster zu scheuchen, anstatt sie mit der Zeitung totzuschlagen. Ich mochte sie. Sie schrieb Gedichte.

    Hilko hatte Töffel nicht angerufen. Er glaubte, dass Töffel unbedingt Schonung brauchte. Es war einfach nicht voraussehbar, wie er reagieren würde. Eigentlich wollten wir ihm am nächsten Morgen in der großen Pause gemeinsam von Charlies Pech erzählen. Aber Leo konnte sich einfach nicht beherrschen. Töffel tauchte mit gebeugten Schultern an der Bushaltestelle auf, schniefte einen kurzen Gruß, da begann Leo zu erzählen. Markus und mir blieb nichts anderes übrig, als gespannt abzuwarten, was nun geschah. Töffel sah Leo fassungslos an, taumelte rückwärts und tastete mit seinen Händen blindlings nach Halt. Er war der Einzige von uns, der noch einen Tornister trug. Dessen Gewicht riss ihn nach hinten und er landete wie eine ungeschickte Schildkröte auf dem Rücken. Der Tornister dämpfte den Aufprall. Wie blickten auf ihn hinunter. Ich streckte eine Hand nach ihm aus, um ihm aufzuhelfen, doch er wehrte sie ab.
    Ich kannte den Spruch „Wenn er reinkommt, geht die Sonne auf.“ Damit bezeichnete man einen Menschen, der alle

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