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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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aufgeregt und vergaß auch jetzt nicht, den mir weder zukommenden noch in absehbarer Zeit in Aussicht stehenden Titel anzuwenden.
    »Mit Wera?« rief ich zurück.
    »Ja, denken 'S Eahna nur« – diese homerische Umständlichkeit schlichter Seelen! – »ang'rufen haben's von der Wirtin von der gnädigen Baroneß, und sie hätten ihr heit in aller Fruah den Blinddarm rausg'schnitten.«
    Gnädiges Schicksal! Nach der Folter meiner Träume und des gestrigen Abends erschien mir die Entfernung des gnädigen Baronessenblinddarms wie ein glückliches Ereignis.
    »Juhu!« rief ich durch die geschlossene Tür, so daß meine redliche Köchin mich zweifellos für einen Zyniker gehalten haben würde, wenn sie gewußt hätte, was das ist. Sie entfernte sich maunzend.
    Ich sauste aus dem Bett und, nach einem kurzen Aufenthalt in der Waschschüssel, auf die Straße. Als ich an der Straßenbahnhaltestelle war, stellte ich fest, daß ich mein Portemonnaie mit den kümmerlichen Pfennigbeträgen der neuen Rentenmarkwährung vergessen hatte. Aber ich wollte nicht mehr umkehren. Ich rannte zu Fuß stadtwärts weiter, ins Klinikenviertel.
    Unterwegs war viel los. Leute redeten erregt aufeinander ein. Viele Männer trugen die Uniform von Bruno Tiches. Auf Lastkraftwagen standen welche und schwenkten schwarzweißrote Fahnen und rote mit etwas mittendrin. Sie warfen Flugblätter herunter und sangen. Manchmal riefen sie »Heil!«, und die von der Straße riefen auch »Heil!«
    Ich kannte solche Um- und Aufzüge von vielen Sonntagen, an denen irgendwelche Denk- oder Mahnmäler eingeweiht wurden, die immer das in Bewegung setzten, was damals ›vaterländische Verbände‹ hieß. Daß sich so etwas nun auch an einem Wochentag begab, faßte ich in meinem holden Taumel als Huldigung für Wera auf. Schließlich wird selbst in einer Stadt wie München nicht jeden Tag einer baltischen Baronesse mit Melusinenaugen der Blinddarm herausgeschnitten.
    In der Klinik wollte man mich nicht zu ihr lassen. Ich log mannhaft, daß ich ein Vetter der Baronesse sei. Das half. Eine Hilfsschwester telefonierte mit einer Schwester und die mit einer Oberschwester. Dann sagte man:
    »Aber nur ganz kurz!« und führte mich nach oben.
    »Ihr Herr Vetter«, meldete die mich begleitende Schwester von mittlerem Dienstgrad durch die halbgeöffnete Tür.
    Daraufhin hörte ich »Aha!« sagen und durfte eintreten.
    »Darf ich vorstellen?« sagte Wera traditionsbewußt zu der Krankenschwester und setzte meinem Namen ein schlichtes ›von‹ voran. Die Schwester knickste wieder zur Tür hinaus.
    Wie sah mein Mädchen aus! Ganz blaß und zart und die Augen noch melusiniger, wenn das überhaupt möglich war.
    »Der Sandsack ist schon runter«, sagte sie leise.
    Man hatte meine Melusine mit einem Sandsack zu beschweren gewagt. Ich hatte nicht übel Lust, mich darüber gleichfalls zu beschweren. Aber im Grunde war ich nur allzu froh, daß alles so gut gegangen war. Ich sprudelte los, erzählte von meinen Ängsten und Nöten des gestrigen Abends, von meinen Träumen und dem homerischen Köchinnenbericht.
    »Rasiert hast du dich auch nicht«, sagte Wera, die auf ihrer Backe einige rote Kratzer bekam.
    Ich wunderte mich, daß die Freundin allein lag, obwohl sie mit unserer Studenten-Krankenversicherung höchstens auf einen Platz in einem der großen Säle Anspruch gehabt hätte.
    »Es liegt wieder einmal am Namen«, erklärte sie. »Die guten Eingeborenen sehen eben immer noch ein bißchen mittelalterlichen Feudalglanz um mein spätgeborenes Haupt. Übrigens, was machen denn unsere Bayern heute?«
    »Wieso?« fragte ich.
    »Na, du weißt doch von dem Putsch?«
    »Putsch« – zum erstenmal seit den unseligen Kappzeiten vernahm ich das Wort.
    »Ja, hast du denn nicht gehört, was gestern abend im Bürgerbräukeller geschehen ist und was seit heute früh in der Stadt passiert?«
    Nein, ich wußte nichts – gar nichts. Meine Melusine schüttelte betrübt den Kopf.
    »Man kann euch Mannsbilder nicht einen Tag allein lassen, ohne daß ihr gleich aus der Weltgeschichte fallt!«
    Dann erzählte sie mir, wie sie heute früh der freundliche Mann, der die Bettflaschen einsammelte, unter der Tür mit ausgestrecktem Arm und einem donnernden »Heil!« begrüßt habe. Wie es dann draußen auf dem Gang zu einem furchtbaren Krach zwischen ihm und dem Chef gekommen sei, und daß ihr danach die Stationsschwester von der neuen nationalen Regierung berichtete.
    Ach du lieber Himmel, fing das wieder

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