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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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an! Kaum war die Mark unten, ging die politische Leidenschaft hoch.
    »Wen haben wir denn jetzt?« erkundigte ich mich nach Nam' und Art der neuen Herren.
    »Kahr – Hitler – Ludendorff«, sagte Wera.
    »Und Tiches«, fügte ich ahnungsvoll hinzu.
    Da hörten wir draußen Schüsse knattern. Nicht viele, aber es waren Schüsse.
    Wera schrak im Bett zusammen und wäre sicher noch blasser geworden, wenn das möglich gewesen wäre.
    »Jetzt fängt's an«, sagte sie.
    »Oder es hört auf«, antwortete ich.
    Und diesmal behielt ich recht. Denn als ich bald danach – von einer Schwester mit dem als Fieberthermometer getarnten Flammenschwert vertrieben – auf die Straße trat und über den Odeonsplatz heimging, war die Erregung in der Stadt ungeheur geworden. Gruppen von Leuten standen beisammen, die miteinander diskutierten oder sich beschimpften. Frauen kreischten: »Hochverrat!« Drei arglos ihres Weges gehende städtische Polizisten wurden angespuckt.
    Auf der Straßenmitte marschierten mit schleifendem Schritt uniformierte junge Burschen, mit leeren, hoffnungslosen Gesichtern. Sie hingen förmlich in ihren Uniformen. Heute früh hatten sie noch gesungen, randaliert und bramarbasiert. Jetzt hatten sie Schüsse gehört und Blut gesehen.
    Vom Siegestor her kam berittene Reichswehr. Auf den Bürgersteigen johlten Menschen und schwangen Fäuste gegen die Offiziere, die auf ihren Pferden starr geradeaus schauten. An den Universitätsarkaden schoben Diener die schweren Eisengitter vor. Die Universität wurde geschlossen. München bekam ein fremdes, unheimliches Gesicht. Es gefiel mir gar nicht mehr.
    In den nächsten Tagen wurde es vollends abscheulich. Ich wollte ins Wölfflinkolleg gehen und geriet im Lichthof der Universität in eine Versammlung nationalistischer Studenten, die gegen den ›Verräter der nationalen Revolution‹, Herrn von Kahr, protestierten. Sie schrien jeden Redner nieder, der zu Vernunft und Mäßigung mahnte. Das heißt, sie schrien ihn nicht bloß nieder, sie sangen ihn nieder, aber der Effekt war der gleiche und der musikalische Genuß gering.
    Statt eine Vorlesung über die ›Desastres‹ des Goya zu hören, mußte ich dieses akademische Desaster miterleben. Ich sah, wie man Priesterschüler mit Püffen traktierte und unter Fausthieben Studenten hinausbeförderte, deren Nasen den Demonstranten nicht gefielen. Ich begann schon für die eigene zu fürchten, als eine donnernde Stimme »Kommilitonen!« rief und durch ihre markige Forsche das aufgeregte Gebrodel im Lichthof zum Schweigen brachte.
    Die Stimme kannte ich. Dort oben stand mein einstiger Klassenkamerad, der Banklehrling und Korpsdiener a. D. Bruno Tiches, derzeitiger nationaler Revolutionär. Sein Gesicht sah grau aus und war schwammig geworden.
    »Kommilitonen!« schrie Tiches, heiser von der nationalen Betätigung der letzten Tage. »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.«
    (Stürmisches ›Heil‹ des Lichthofes.)
    »Wir wollen die kennenlernen, die gegen uns sind!«
    (»Heil! Heil!«)
    »Wer für uns ist, hebt die Hand.«
    (»Heil« in Potenz.)
    Ich vergaß, meine Hand für Bruno zu heben, und sagte halblaut zu einem dicken Mann neben mir:
    »Der ist gar kein Student.«
    Da spürte ich wirklich eine Faust an meiner gefährdeten Nase. Freundliche Kommilitonen hoben mich hoch, wobei sie meine mangelhafte Haltung durch einige Stöße in den Rücken korrigierten, und ließen mich vor den Universitätstüren an der Ludwigstraße fallen. Draußen stand Reichswehr mit aufgepflanztem Bajonett, mit dem Blick auf die Universität.
    Einige Augenblicke blieb ich noch in meinem Nasenblut liegen, dann rappelte ich mich auf. Mir war ein bißchen nach Föhn zumute. Ich ging zu Wera in die Klinik.
    Mit einem duftenden Spitzentaschentuch wischte sie letzte verkrustete Blutspuren von meinem Mund.
    »Ich bin schön dazwischengekommen«, sagte ich.
    »Solche wie du werden immer dazwischenkommen.«
    »Hauptsache, du bist immer ganz bei mir.«
    »Ohne Blinddarm bin ich aber nicht mehr ganz.«
    »Sei nur von jetzt ab vorsichtig mit den Polizeiboten.«
    »Warum?«
    »Weil du ein besonderes Kennzeichen in den Steckbrief kriegst.«
    An diesem Tag war meine blasse Baronesse besonders süß, und es ging ihr jetzt auch schon so gut, daß der adlige Vetter sogar über das Mittagessen dableiben durfte. Das war freilich etwas anderes als in der Mensa! Forelle blau mit Butter. Wera aß nur wenig davon und ließ das übrige mir. Ich war gewissenlos genug, alles

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