Wir Wunderkinder
ratzekahl aufzuessen. Die Stationsschwester erklärte es für ein gutes Zeichen der baroneßlichen Genesung.
Während des Nachtischkusses – Weras Mund schmeckte nach Pflaumenkompott – kam die Schwester herein, um das Tablett abzuholen. Dabei schienen ihr Bedenken über den Vetter zu kommen. Doch sie lächelte hold.
»Was denkt die sich nun?« fragte ich, als sie wieder draußen war.
»Das Richtige«, antwortete Wera.
Diese zehn Tage Klinikaufenthalt gehörten mit zu den schönsten unserer Liebe. In der keimfreien Umwelt zwischen Tod und Leben fühlten wir sie und uns wunderbar geborgen. Vor den Fenstern war Novemberdunkel, aber die Desinfektionsgerüche ersetzten uns Flieder und Jasmin. Nie vergaßen wir darum in den kommenden Jahren, den Tag von Weras Operation zu feiern.
Von 1933 an – gerade da waren wir noch einmal beisammen – wurde er zum nationalen Feiertag erhoben. Die Stadt wurde beflaggt, und die Tichesse marschienen mit Trauermusik und großem Uniformgepränge durch die Münchner Straßen, in denen sogar die Trambahnen umgeleitet werden mußten.
»Alles wegen meinem Blinddarm«, sagte Wera ergriffen.
Raub der Sabinerin
Im Jahre 1924 erstarkten allmählich die Rentenmark, unsere Portemonnaies und unsere Charaktere. Mit etwas mehr Geld in der Tasche hat man's leicht, ein besserer Mensch zu sein. Auch die Phantasieuniformen, die uns in München gestört hatten, verschwanden wieder aus seinen Straßen.
Dennoch beunruhigte mich ein Brief, den mir Vater schrieb, weil das, was Tiches ›die Bewegung‹ genannt hatte, und was in ihrer Haupt- und Geburtsstadt zunächst stillgelegt worden war, sich jetzt dafür in der Provinz um so kräftiger zu bewegen schien. In Vaters Brief stand unter anderem:
»Du scheinst mir doch etwas zu leichtfertig über nationalgesinnte Männer und ihre lauteren Ziele zu urteilen. Du weißt, daß ich früher nicht sehr viel von Deinem Klassenkameraden Tiches gehalten habe, und er hat sicher auch manche Dummheiten gemacht. Aber gerade in hiesigen akademischen Kreisen wird jetzt sehr positiv über ihn geurteilt. Er soll am 9. November unerschrocken in den Kugelregen geschritten sein. Onkel Bense, der sich wieder öfters bei uns zeigt, sagte, daß Tiches Dir durchaus wohlwollend gegenübersteht, daß er nur meint, Du verplempertest Dich in Schwabinger Bohemekreisen. Sag mal, wer ist denn das Mädel, mit dem Du Dich herumtreibst? Denk immer daran, daß Du uns keine Schande machst. Ich hoffe doch, es noch zu erleben, daß Du eines Tages in Deiner Heimatstadt ins höhere Lehrfach eintrittst, und bin überzeugt, daß sich unter den Töchtern unserer Fabrikanten, die heute durchweg wirtschaftlich saniert sind, mehr als eine für einen jungen Dr. phil. interessiert. Also steige in dieser Beziehung ja nicht herab und verdirb Dir nicht die Karriere … Übrigens kann es sein, daß Du jetzt in München auch mal Karl Meisegeier triffst {31} . Onkel Bense sagt, daß auch er sich famos entwickelt hat.«
Ich war ziemlich deprimiert nach diesem Brief. Die Tiches und Meisegeier wurden mir vom eigenen Vater als leuchtende Vorbilder hingestellt, nach deren Wohlwollen ich trachten sollte. Ich zeigte den Brief Wera.
»Dann müssen wir uns ja wohl trennen«, rollte sie in eindrucksvollem baltischem Deutsch, als sie ihn gelesen hatte, und legte ihr blondgewelltes Haupt an meine Schulter. »Damit ich kein Hemmschuh für deine Karriere bin.«
Wir nahmen Abschied und küßten uns so, daß alles kriegerische Eisengerümpel, das wir unter mein Bett gestellt hatten, zu klirren begann. Danach schworen wir uns, nie auseinanderzugehen, selbst wenn wir nach der nächsten nationalen Revolution ›Heil Meisegeier!‹ sagen müßten. In guten Stunden nannte sich meine Baronesse von nun an ›der Karrierehemmschuh‹. Der Name stand ihr gut.
Mit meiner ›Verplemperung‹ in Literatenkreisen wurde es in diesem Sommer insofern noch schlimmer, als ich im Kreis des Theaterprofessors Artur Kutscher selbst Theater zu spielen begann. Meine Baronesse billigte diesen Schritt, weil sie auf Freikarten spekulierte.
Meine neue Laufbahn begann ich in einer Komödie, die das Theaterwissenschaftliche Seminar vor der Amalienburg im Nymphenburger Park aufführte. Das geschah an köstlich warmen Sommerabenden, wie sie im Voralpenland nicht gerade häufig sind. Wir spielten in die Dämmerung hinein, bei Heu- und Lindenduft und zu den zärtlichen Klängen eines Streichquartetts. Die Musikanten saßen in Rokokokostümen
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