Wir Wunderkinder
den Lichthof, und die Tür zu Kirstens Hörsaal tat sich auf. Mein Struwwelkopf packte sein Kollegheft in die Mappe und winkte mir zu. Ich reichte Evelyna Tiches rasch die Hand zum Abschied, ohne Bruno grüßen zu lassen. Auch die großen Türen des ›Max‹ wurden schon geöffnet. Ich sah drinnen weiße und kahle Köpfe. Einer der ältesten unter meinen früheren Professoren kam als erster heraus. Tiches belehrte die Dozenten – der Teufel gab Gesangsstunde im Himmel!
»Isch habe disch für morgen beim Film angemeldet!« sagte Kirsten triumphierend, als wir durch den rückwärtigen Universitätseingang auf die Amalienstraße gekommen waren. »Du wirst viel Geld verdienen.«
»Beim Film?« rief ich. »Du bist ja verrückt.«
»Du bist es, wenn du morgen nischt nach Geiselgasteig fährst. Sie suchen viele Leute für Massenaufnahmen, und es müssen nischt nur S-tudenten sein.«
Sie beruhigte sich erst, als ich mich zum Geldverdienen bereit erklärte …
Am nächsten Morgen sah ich in einer der Massengarderoben des Geiselgasteiger Filmgeländes als erstes, wie sich ein kleiner, drahtiger Mann, der neben mir auf einer langen Bank saß, vor einem Spiegel das Gesicht mit braungelber Schminke beschmierte.
»Sagen Sie, muß man das etwa selbst machen?« fragte ich ihn beklommen.
»Brauchst mir nich ›Sie‹ sagen, Kumpel, ooch wenn ick'n paar Jahre älta bin«, antwortete der Kleine konziliant. »Und det Jesichte bemal' ick dir. Bis der Frisöhr rum is, zwitschern wir schon een in de Kantine.«
Ich wurde von dem hilfreichen Mitkomparsen kunst- und filmgerecht geschminkt, und als wir auf dem Weg zur Kantine waren, fragte er mich:
»Wat bist'n von Beruf?«
»Stellungsloser«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Dieselbe Branche üb' ick ooch aus.«
»Und was bist du früher gewesen?« – das ›Du‹ ging mir noch etwas schwer von den Lippen.
»Mimiker. Ick hab' in die Varietés berihmte Manna nachjemacht. Kiek mal.«
Der Mann nahm ein kleines schwarzes Bürstchen aus der Tasche, hielt es sich unter die Nase, strich sich eine Tolle in die Stirn, die er in strenge Falten legte, und der Herr, den ich zu weit durch die Drehtür gedreht hatte, war fertig. Daß wir beide SA-Uniformen anhatten, machte die Sache einigermaßen spukhaft.
Mein Kollege fuhr in seinen Erklärungen munter fort:
»Det ham se mir natierlich vaboten. Adolf jeht ja nu nich' mehr. Aber ick hab' doch ooch Hindenburchen nachjemacht und Bismarcken und Napoleon – und ick hab da'n scheenes Stick Jeld rinjesteckt. Meenen Tirpitzbart hättste sehn sollen: zwee solche Dinga, wie Eichhörnchenschwänze aus'm Polarjebiet. Prima Ware! Schließlich wollte ick ja bloß det deutsche Volk seine Jeschichte nahebringen. Aber seit die ihre Jeschichten machen – .«
Ich wußte, wer ›die‹ und was ›ihre Geschichten‹ waren, und es bedrückte mich, daß ich nun ausgerechnet in der braunen Tiches-Uniform durchs Filmgelände lief, weil das, was man mit uns zu drehen gedachte, als Großfilm der nationalen Erhebung bezeichnet wurde. Aber mein neuer Freund Kischke – so hieß der mimische Geschichtslehrer aus Brandenburg an der Havel – beruhigte mich:
»Paß uff«, sagte er, ohne nähere Erläuterungen zu geben, »die könn' wir in ihre eijene Kluft noch janz scheen rinlejen!«
Kischke war schon seit einigen Tagen im Gelände und hatte in kleineren Szenen mitgewirkt. Nun sollten wir in Massenszenen die heroische und kämpferische SAmimen.
»Heute nachmittag spiel'n wa ›Marsch zur Feldherrnhalle‹«, sagte Kischke.
»Aber doch nicht vor der wirklichen Feldherrnhalle?« fragte ich entsetzt, während wir schon unter den Bäumen des Kantinengartens Platz nahmen.
»Klar! Außenuffnahme. Det is doch der Ulk dabei, Kumpel!«
Nun, es erschien mir gar nicht ulkig, als wir kurz nach Mittag auf offene Lastwagen verladen und in die Stadt München transportiert wurden. Wenn mich jemand so sähe! Das Ehepaar Löw womöglich! Ich schämte mich, daß ich Kirsten in dieser Sache nachgegeben hatte, obwohl mir das Sonderhonorar gerade zu dieser Zeit recht gelegen kam.
Auf dem Odeonsplatz, der in weitem Umkreis abgesperrt war, mußten wir stundenlang warten. Die Hauptdarsteller des Films und der Weltgeschichte kamen stilgerecht erst sehr viel später in ihren eleganten Wagen angefahren. Wir, Volk aus den grauen Lastautos, verkrümelten uns inzwischen im Schatten des Hofgartens, sahen den kaffeetrinkenden Bürgern, den Spatzen und Tauben, den auf ihren Beeten
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