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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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diesem Siebenmonatstännchen ein schwieriges Unterfangen. Das Bäumchen stand mit beflissenen Kerzlein auf dem Tisch, und sich unter der Tischplatte zu verloben, wäre selbst so albernen Menschen, wie wir es waren, nicht ganz schicklich erschienen. Ich goß also die Gläser voll mit funkelndem Valpoliceller – sonderbar und wunderbar zugleich, daß Wera uns den Verlobungswein lieferte! –, und wir knieten uns auf dem Teppich einander gegenüber. Das wirkte ganz hübsch und feierlich. Dann neigten wir uns voreinander, sagten: »Ich verlobe mich mit dir«, tranken die Gläser leer und küßten uns. Sehr lang. Während des Kusses schrie ich auf.
    »Tut Verloben weh?« fragte Kirsten.
    »Mir ist Wachs vom Christbaum auf den Kopf getropft.«
    »Das ist mit einem heißen Bügeleisen leischt ssu entfernen«, tröstete mein liebenswürdiges Bräutchen.
    Es wurde ein zauberhafter Abend. Wir tranken, prosteten uns zu, sangen deutsche und dänische Weihnachtslieder und gestatteten unserem Baumaspiranten das schönste Vorrecht eines erwachsenen Christbaums: Wir ließen seine Kerzen ganz herunterbrennen. Als nur noch das letzte dünne Kerzchen brannte, sah der wehende Schatten an der Decke wie der von einem richtigen großen Weihnachtsbaum aus. Wir schauten ergriffen nach oben.
    »Stell nur in unserem Leben immer eine Kerze hinter mich«, sagte ich, »dann wirke ich vielleicht auch noch mal wie ein richtiger großer Mann.«
    »Darauf kannst du disch verlassen!«
    Kirsten sagte es so energisch, daß ich ihr zutraute, sie würde zu meinen künftigen Lebensattacken die Kavalleriesignale nicht minder schneidig blasen als Herr Roselieb.

Die Schlacht von Geiselgasteig
    Kirsten hatte bis sieben Uhr Kolleg, und um sie abzuholen, ging ich im Erdgeschoß der Universität vor einem kleinen Hörsaal auf und ab. Da sich gegenüber der Eingang zum Auditorium Maximum befand, dachte ich mit heimlicher Wehmut daran zurück, wie ich einst in diesem großen Saal zu Heinrich Wölfflins Füßen gesessen hatte, der längst in seine eidgenössische Heimat zurückgekehrt war. Dort war ich Wera zum erstenmal begegnet.
    Eine Dame ging, gleich mir, im Halbdunkel des Universitätsflurs wartend auf und ab. Sie war mit etwas übertriebener Eleganz gekleidet, und ich hatte das Gefühl, daß sie mich musterte. Mir wurde unbehaglich zumute, da ich das Gesicht zu kennen meinte und es aus meinem schlechten Physiognomiegedächtnis heraus oft genug unterließ, Leute zu grüßen, die eigentlich meinen Gruß erwarten mußten.
    Als ein Lächeln des Erkennens die fülligen Züge der Wartenden überlief, lüftete ich vorsichtshalber meinen Hut.
    »Heil Hitler!« sagte die Dame, was für eine Dame erstaunlich genug war.
    Dann blieb sie stehen und streckte mir ihre etwas dickliche Hand entgegen.
    »Sie kennen mich wohl nicht mehr?« fragte sie lächelnd.
    »Mein Gott, Ev –«
    »Evelyna« wollte ich sagen, »Fräulein Meisegeier«, sagte ich, und als ich es gesagt hatte, wußte ich, daß ich ›Frau Tiches‹ hätte sagen müssen …
    Sie verbesserte mich, und ihr Lächeln wurde ein bißchen schmerzlich, als sie hinzufügte:
    »Man verändert sich in so langer Zeit.«
    O ja, das tat man. Wenn ich mich des süßen, zarten Kindes erinnerte, das wir unter der Schulbank versteckt gehalten hatten – technisch wäre das inzwischen längst unmöglich geworden! – und des reglos auf dem Burgweiher treibenden elbischen Geschöpfs …
    »Wissen Sie, daß ich noch manchmal an die Nacht denke, in der Ihr Elternhaus gebrannt hat?«
    Nun sah ich wieder alles vor mir: das in der feuchten Gartenerde einsinkende rote Sofa, das Mädchen mit dem Stück Silberlame um die Schultern. Ich meinte, ihre kühle Haut zu spüren, ihre weichen Lippen. War sie nicht meine erste große Liebe gewesen? Man darf ihr wohl später nur in Träumen begegnen.
    »Warten Sie auf Ihren Mann?« fragte ich, um über die schmerzliche Ernüchterung hinwegzukommen.
    Einer Begegnung mit Tiches wollte ich nach Möglichkeit ausweichen.
    »Ja, Bruno hält da drin einen Vortrag. Ich will ihn mit dem Wagen abholen.«
    Bruno Tiches sprach dort, wo uns einst von weißer Leinwand die Folterbilder des Malers Goya in schreckhafte Bewunderung versetzt hatten. Jetzt wurden Freiheit, Bildung und Menschenwürde gefoltert, und Tiches würde junge Seelen mit Phrasen vergiften, würde ideologisches Gewäsch vor ihnen ablesen, das ein anderer für ihn geschrieben hatte. Arme Jugend …
    Da schrillte die Stundenglocke durch

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