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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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Teelöffel voll Baldrian vor den drohenden Saaltüren. Ich gab ihr zur Beruhigung Baldrian, ein Stück Zucker und einen Kuß, ehe ich sie dem nächsten Professor auslieferte. Als sie ihr Examen mit der Benotung ›Magna cum laude‹ bestanden hatte, feierten wir in der Roseliebwohnung ein Balkonfest – mit dem Zugang durch Kirstens Zimmer. Meine junge Doktorin fand sogleich eine Anstellung in einer repräsentativen Kunsthandlung, die sich die Sprachkenntnisse der Gillelejeschen zunutze machte.
    Mit ihren schwarzen Staunaugen und ihrem verwurstelten Bubenhaar sah Kirsten immer noch so blutjung aus, daß ein kurzsichtiger alter Herr sie in einem Straßenbahnwagen mit sanfter Strenge fragte:
    »Darfst du denn schon rauchen, Kind?«
    Sie antwortete sanftmütig:
    »Isch nehme eben Unterrischt darin.«
    Aber als ein uniformierter Lulatsch der Tiches-Jugend sie auf der Straße anblaffte: »Die deutsche Frau raucht nicht«, knurrte sie zurück: »Das hat sie sisch selbst ssussuschreiben!«
    In ihrer neuen Stellung suchte Kirsten auch nach neuen Möglichkeiten für meine literarische Tagelöhnern. Einmal kam sie mit etwas ganz Verrücktem.
    »Du mußt Verse über Pferde machen!« sagte sie diktatorisch.
    »Ausgerechnet ich!« antwortete ich. »Ich finde zwar, daß Pferde herrliche Tiere sind, aber ich weiß doch von ihnen nur, daß man auf einer Seite 'raufsteigt, um auf der anderen wieder hinunterzufallen.«
    Meine kindlichen Hippodrom-Erinnerungen waren wirklich nicht ermutigend. Und daß ich später einmal, da ich mit einer Kohlenschaufel im Straßengraben auf der Lauer lag, die Nützlichkeit des Pferdes dankbar erkennen würde, war jetzt noch nicht zu ahnen.
    Diesmal ging es um eine noch abseitigere künstlerische Leistung als bei meinem Marsch zur Feldherrnhalle. Ich sollte zur bereits vorhandenen Musik eines gewissen, nicht unbekannten Johann Strauß Verse über Pferde dichten, die bei einer Festaufführung des ›Zigeunerbarons‹ auf der Opernbühne hoch zu Roß gesungen werden sollten. Das wurde leidlich bezahlt, und wir würden außerdem zwei Freikarten für die betreffende Vorstellung bekommen. Endlich mal wieder ins Theater gehen dürfen – das gab für mich den Ausschlag.
    Ich setzte mich also in meinen ›Dienststunden‹ an das leicht verstimmte Klavier der Roseliebs, tippte mir mit einem Finger etwas aus dem Klavierauszug des ›Zigeunerbarons‹ zurecht und sang dazu:
    »Tam-ta-ram-ta-ta-tam, tam-ta-ramta-ta-tam« – »Ja, das alles auf Ehr' – Setze ich auf mein Pfer –!«
    Da war das ›d‹ zuviel.
    Oder: »Ja, so ganz unbeschwert – Setz' ich mich auf mein Pferd.«
    Das ging schon besser. Roseliebs hatten unendliche Geduld mit meinem Geklimper und Gestümper. Das freundliche Anerbieten von Vater Roselieb, mich auf seiner Kürassiertrompete zu begleiten, lehnte ich dankend ab.
    Dann kam's zu dieser grotesken Festvorstellung im Opernhaus! Es gab unter den Tichessen einen Pferdenarren, der einen Rennstall besaß und sich als Kunstmäzen gebärdete. Auf seine Anordnung wirkten bei der besagten ›Zigeunerbaron‹-Aufführung vierzig edle Rösser mit.
    Barinkay verpaßte den Einsatz zu meinen göttlichen Strophen, weil er – ein besserer Sänger als Reiter – eine unsichere Plattform unter seiner tenoralen Sitzfläche fühlte. Der Chor quetschte sich ängstlich zwischen 160 bewegten animalischen Beinen hindurch und hütete sich sehr, seine vorschriftsmäßige Freude durch allzu laute Töne kundzutun, um die wiehernden Kollegen nicht unnötig zu reizen. Landwirte und Kleingartenbesitzer in den Parkettreihen sahen mit Interesse zu, wie sich Pferdeschwänze hoben und unvorschriftsmäßige Requisiten auf den Bühnenboden fallen ließen.
    Sogar der Dirigent schwang seinen Taktstock ziemlich behutsam, denn an einer von schmetternden Trompeten hervorgerufenen Kavallerieattacke nach vorn hatten weder er noch seine Orchestermusiker ein Interesse.
    Ich saß mit Kirsten in der zehnten Reihe und hielt sie, zwischen Lachen und Weinen, bei der Hand. Meine mühsam zusammengestoppelten Reime wurden von Pferdehufen im Wortsinn niedergetrampelt.
    Dafür durften wir uns in den Pausen an einem erhebenden Anblick erlaben: In einer großen Loge des ersten Ranges saß die Familie Tiches-Meisegeier in einer Glorie, die weder wir noch sie je wieder erleben sollten. Mittelpunkt war die gewichtige Mutter Meisegeier, in ein Walkürenkorsett und ein Abendkleid aus Goldbrokat gepreßt. Auf ihrem einst zigeunerisch

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