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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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Primaverareise an leuchtender Bläue nichts nach, und sanfte südländische Winde umfächelten uns Nordlandreisende, die wir auf dem Deck eines weißen Schiffes in Liegestühlen Sommerbräune annahmen. Was mir einst ein Prospekt für Palermo versprochen hatte, löste nun die dänische Hafenstadt Gjedser ein. Sie bot den Anblick einer in blauem Sommerglast verschwimmenden tropischen Küste. Die nordischen Stockfische und Eisbären meiner mißtrauischen Phantasie zogen sich in rauhere Berge zurück.
    »So ist es im Sommer bei uns immer«, prahlte meine Kattegattische, die der Anblick heimischer Gefilde immer vergnügter und damit auch immer ›dänischer‹ machte, wie ich in den kommenden Stunden, Tagen und Wochen erfahren sollte.
    An Hand der Verbotsschilder im Kopenhagener Zug, den wir in Gjedser bestiegen, brachte sie mir die ersten Grundlagen ihrer Muttersprache bei, wie denn bekanntlich die meisten Reisenden in die Kultur eines fremden Landes nicht auf dem Wege über die Verse ihrer Dichter eindringen, sondern mit der Kenntnis so markanter Sätze beginnen wie ›Rauchen verboten‹, ›Spucken verboten‹ und ›Nicht hinauslehnen‹. Gesellschaftliche Grundbegriffe vermitteln die Wörter ›Herren‹ und ›Damen‹, die man ebenfalls notwendigerweise mit zuerst lernt.
    Wir fuhren durch ein ganz unsensationelles Land von sanfter grüner Anmut, in das Kühe und Briefträger, weiße Häuser und Kirchtürme und die rotweiße Kreuzflagge des Danebrog liebenswürdige Farbtupfen brachten. Mein Herz wurde mit jeder Räderumdrehung leichter.
    Für unsere Ankunft in Kopenhagen hatte Kirsten eine Taktik ersonnen, die geradezu einer psychologischen Generalstabsarbeit entsprach. Es war abends acht Uhr, und der Hauptbahnhof der Hauptstadt zeigte ein Allerweltsbahnhofsgesicht. Die Gillelejesche aber ließ unsere Koffer mit Hilfe einiger unverständlich geknödelter Wörter in eine Gepäckaufbewahrung bringen und tat geheimnisvoll.
    »Wir gehen bloß mal eben über die Straße«, sagte sie, als wir den Bahnhof durch einen Seitenausgang verließen.
    Da hörten wir es schon dudeln und jauchzen, anders als gemeinhin auf Bahnhofsvorplätzen, und als wir die Straße überschritten hatten, kamen wir durch ein klackendes Zählwerk ins ›Tivoli‹, das alle meine bisherigen Vorstellungen von Rummelplätzen und Lunaparks Lügen strafte. In diesem Vergnügungspark wurde nicht nur einfach gerummelt, sondern ein heiteres Volk ließ sich für wenige Oere Eintrittsgeld einen Abend lang verzaubern. Alle amüsierten sich dort königlich – vom königlichen Prinzen bis zum königlichen Kaufmann und dem Matrosen der königlichen Marine. Keiner scheute die Tuchfühlung mit dem anderen, mit Arbeitern, Handwerkern und Bauern.
    Lichter wuchsen wie Blüten in den Bäumen und auf dem Grund eines kleinen Sees, den beleuchtete Boote befuhren. Licht blühte um die Wette mit Sommerblumen auf gepflegten Beeten und wurde zum bunten Wasser von Fontänen und zierlichen kleinen Springbrunnen. In einem Pavillon spielte ein philharmonisches Orchester Beethoven, und der kleine Mann, zum großen Genießer avanciert, hörte entweder drinnen zu oder beobachtete von draußen durch Glasscheiben die Bewegungen des Dirigenten. Der große, hochgeborene Mann aber, der in einem der Restaurants erlesen gespeist hatte, sauste mit der Achterbahn talwärts und hörte fünf Kapellen gleichzeitig und sechs Karussellmusiken dazu. Groß und klein aber trugen einander nicht nach, wovon ihnen bei der rasenden Rutscherei schlecht wurde, vom kostspieligen Restaurantmenü oder von den billigen, unverschämt roten Budenwürstchen, die sich sehr drollig ›poelser‹ nannten.
    »Das ist unsere Demokrassie«, sagte Kirsten und ließ mich im Pfauenvogeltheater das uralte Pantomimenspiel von Harlekin und Colombine sehen, das ich ebenso wie die vielen anwesenden Unmündigen verstand, da es, sprachlos ausgeführt, der Übersetzung nicht bedurfte.
    Wir küßten uns im Dunkel der Geisterbahn, obwohl wir das gar nicht nötig hatten. Mein aufgeklärtes Fräulein Dr. phil. quietschte stilgerecht auf, als uns feuchte Lappen übers Gesicht fuhren oder magere Herren aus Särgen mit Knochenhänden drohten.
    »Was wollen denn die Herren Gerippe?« fragte ich Kirsten.
    »Sie sagen, es wird höchste Sseit, daß du misch heiratest«, antwortete sie.
    In dieser turbulenten Wunderwelt verlor sogar der Gedanke an eine ›Eheschließung‹ seine Schrecken für mich. Was man in einem so lustigen Lande

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