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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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Versammlung:
    »Schließlich war ja der Vater von Doddy auch bloß ein Mestize aus einem Wanderzirkus {46} !«
    So endete die Nachfeier der glanzvollen Pferdeoperette für die Tiches-Sippe in finsterster Verzweiflung:
    Mutter Meisegeier, der plötzlich eine Ahnung über das Schicksal ihres Lieblingssohnes aufging, ernüchterte sich jäh und beschimpfte die ratlos herumstehenden Gäste derart, daß sie erschrocken das Weite suchten. Ihre drei übrigen Söhne aber taten sich in einer Art Rütlischwur zusammen, »die Reihen fester zu schließen«, wie jedesmal die amtliche Version lautete, wenn innerhalb der Partei eine Eiterbeule geplatzt war. (Später wandte man diese Version auch auf den Krieg bis zu seinem bitteren Ende an.)
    Bruno Tiches beschloß, mit dem verbliebenen Meisegeier-Rest zunächst eine lose Tuchfühlung zu halten, auch wenn die Familie ihrer glänzenden Spitze beraubt war. Wenn die drei Meisegeiers minderen Ranges sich, nach vollzogenem Bruderopfer, behauptet haben würden, konnte er sie vielleicht als Hausmacht und Leibwache immer noch gebrauchen. Und wo sonst hätte er noch mal eine Schwägerin von den Qualitäten Doddys auftreiben sollen?

Die lange Lange Linie
    Die Tagebuchaufzeichnungen des Bruno Tiches werden im Jahre 1939 von Tag zu Tag gedunsener und großsprecherischer und wirken mit den Formulierungen ›Großdeutschland wird größer von Tag zu Tag‹ und ›Morgen gehört uns die Welt‹ wie Schlagzeilen aus der genormten zeitgenössischen Presse oder wie die gesungenen, getrommelten und gepfiffenen Parolen der völkischen Dichterriege, die in Apollos stille Haine einbrach, um mit Blut und Boden, Schwert und Kruppstahl ihre vorgeschriebenen literarischen Spiele zu treiben.
    Zwischen diese uninteressanten Äußerungen einer phraseologischen Maulsperre tröpfeln bei Bruno nur ganz dünn einige private Bekenntnisse mit ein. So die folgenden aus den Frühlings- und Sommermonaten jenes Schicksalsjahres:
    »Evelyna hat wieder ein Mädchen bekommen. Das dritte. Sie hat eben gar keine Impulse.«
    »Doddy hat bei einem Reiterfest im Nymphenburger Park mitgemacht. Als Amazone zu Pferde in einem dünnen Schleiergewand. Sie hat natürlich wieder mächtig Furrore (!) gemacht und ist in die Wochenschau gekommen. Aber das nächste Mal muß sie doch was drunterziehen.«
    »Ortsgruppenleiter Bense war in meinem Büro. Der hat das kleine Drecknest da oben {47} ganz hübsch auf Trab gebracht.
    Den alten S. hat er auch wegschaffen lassen. Der kann sich ja nun mit seinem Früchtchen Karl im Konzertlager {48} treffen.«
    »Schwiegermutter haben wir vorsorglich in einer Heil- und Pflegeanstalt abgegeben. Sie fing im Suff an, die Herkunft ihrer verschiedenen Kinder auszuquatschen. Das war rassenideologisch nicht länger tragbar.«
    »Aus dem Wagen heraus habe ich R. {49} gesehen. Habe mir danach mal seinen Akt vom SD herüberreichen lassen. ›Lebt mit einer Ausländerin‹, steht da. Von solchen Bürschchen lassen wir unsere völkische Moral nicht untergraben.«
    Ja, so steht es wortwörtlich in der gequält markigen Schrift des Bruno Tiches in einem seiner vielen kleinen Heftchen, die mir zur Bearbeitung vorliegen. Es ist selbstverständlich, daß ich diese Dinge keinesfalls in den Tatsachenbericht aufnehme. Aber mir ist doch ein wenig wie dem Reiter überm Bodensee zumute, wenn ich daran denke, daß Kirstens feine Witterung für atmosphärische Störungen uns damals vor Schlimmerem bewahrt haben mag. Denn es muß fast auf den Tag mit Tiches' letzter Eintragung übereinstimmen, als sie zu mir sagte:
    »Isch denke, wir werden diesen Sommer nach Dänemark reisen und uns heiraten.«
    Dieses ›uns heiraten‹ gefiel mir nicht. Ich wollte sie zwar heiraten – mit der zur Tradition gewordenen männischen Sieger- und Eroberergeste –, aber jetzt noch nicht.
    »Ich bin doch noch nichts«, wandte ich ein, obwohl ich wußte, daß gegen Kirstens Beschlüsse wenig zu machen war.
    »Du bist sehr viel, wenn du mein Mann bist«, antwortete sie, und dagegen war in der Tat nichts Stichhaltiges zu sagen, weil die Langbeinige nicht nur höchst anziehend war, sondern mir, dank ihrer beruflichen Tüchtigkeit, sogar etwas wie ›Heim und Herd‹ schaffen konnte. Die Verhältnisse hatten sich nun mal merkwürdig verkehrt.
    An einem Junitag fuhren wir über die Ostsee. Auch Geographie und Meteorologie schienen in diesem Sommer 1939 die landläufigen Vorstellungen umgekehrt zu haben. Die Ostsee gab dem Ionischen Meer meiner

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