Wir Wunderkinder
trugen mit politisch neutralen Mienen ihre Opfer auf Bahren hinaus. Zigarrenrauch und Kampfesstaub wurden jeweils vor den Probeaufnahmen mit Hilfe käuflichen Räucherwerks im pappenen Bräusaal verteilt.
Als jedoch das Signal »Achtung! Aufnahme!« ertönte und rote Lichtzeichen im Atelier Ruhe geboten, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Unsere kostümierte SA begann jene schreckliche Schlacht von Geiselgasteig zu schlagen, deren Opfer die marxistisch verkleidete, echte SA wurde. Es hagelte Prügel und Schläge im freiesten Catcherstil der Welt. Tische und Stühle zerkrachten über ihre vorgesägten Bruchstellen hinaus. Echtes Blut lief aus echten Nasen, und der redliche Kischke nahm es nur übel, daß einer seiner Vertrauten aus landesüblicher Kirchweihlust sogar einen echten Maßkrug, statt des pappenen Requisitengebilde eingeschmuggelt hatte und als Wurfgeschoß verwendete. Da bei diesem Gemetzel auch in den kostümierten Marxisten selige Kampfzeiterinnerungen wach wurden, hielten sie sich gleichfalls nicht länger an die vorgeschriebenen Rollen der unterliegenden Weltanschauung, sondern beteiligten sich mit vollem Einsatz an der bajuwarischen Holzerei.
Nichts half es, daß der Regisseur längst die Aufnahme abgepfiffen hatte und die sinnlos gewordenen ›Ruhe‹-Lichter erloschen waren –, die Schlacht ging fröhlich und intensiv weiter. Beflissene Hilfsregisseure, die, den Befehlen ihres Herrn und Meisters gehorchend, die Kämpfenden, Schnaufenden, Blutenden zu trennen versuchten, durften froh sein, wenn sie die Nasen, die sie unbefugt in die weltanschaulichen Auseinandersetzungen gesteckt hatten, unblutig wieder herausbrachten.
Rufe »Sanitäter!« wurden laut. Aber die maskierten Sanitäter hatten entweder Angst, selbst mit verdroschen zu werden oder ihre echten Requisitenbahren mit Blut zu verunreinigen. Der Beherzteste von ihnen wagte es, die wirklichen Sanitäter der Filmstadt zu alarmieren, die zugleich mit der Feuerwehr herbeieilten und das Schlachtfeld vom Wehgeschrei der Getroffenen und von Staubwolken erfüllt fanden, wie sie eindrucksvoller und billiger nie in einem Filmatelier erzeugt worden sind.
Nie auch in der Filmgeschichte ist eine Aufnahme wie diese nur einmal gedreht worden. Eine Wiederholung war nicht nur deshalb unmöglich, weil die Pracht des Bräusaals sich in ihre Urbestandteile Pappe und Leinwand aufgelöst hatte, sondern weil auch zu viele Opfer des Kampfes sich in ambulante Behandlung hatten begeben müssen. Kein Regisseur hätte eine Wiederholung der Saalschlacht gewagt.
Der fertige und kräftig zurechtgeschnittene Film empfing nachher seinen bescheidenen Ruhm allein von dieser Szene, die eine beflissene Presse als ›Markstein eines neuen deutschen Filmrealismus‹ pries.
Kirsten aber, als sie mit mir im Kino den Streifen und mich selbst als atemlos schnaufendes, rollendes, sich überkugelndes braunes Bündel sah, sagte seufzend:
»Das lasse isch disch nischt wieder machen. Du lernst ssuviel für die Ehe dabei.«
Ich hätte es sowieso nicht wieder gemacht.
Glanz und Elend des Hauses Meisegeier
Die Jahre gingen dahin, und es wurde immer weniger schön in Deutschland. Je mehr es äußerlich seine Grenzen ausweitete, um so mehr verlor es seine inneren Maße.
Unser Freundeskreis wurde kleiner. Die einen wurden verhaftet, andere verschwanden – und wir wußten nicht wohin. Am schwersten fiel mir der Abschied von Hans und Ulla Löw. Kirsten und ich begleiteten sie zum Bahnhof, als sie nach Hamburg fuhren. Ich wußte ihnen so gar nichts Tröstliches mehr zu sagen. Mein vormaliger Optimismus war ebenso dahin wie der von Fritz Gebbinger, der längst Hals über Kopf seine Parteizugehörigkeit aufgegeben hatte.
Die Bahnsteigqual war diesmal kaum geringer als bei Wera. Die Löws fuhren nach Amerika. Sie hätten in Ullas Heimat, nach Schweden, auswandern können – aber da Hans schon sein geliebtes Deutschland drangeben mußte, mochte er auch nicht mehr in Europa bleiben. Das Rührende war, daß die Freunde sich mehr um uns und unsere Zukunft Sorgen machten als um die eigene. Sie fuhren ja in die Freiheit.
»Hüpfensah«, flüsterte Hans mir zu, als der Zug sich in Bewegung setzte.
Wir lächelten, obwohl wir alle vier feuchte Augen hatten …
Kirsten war inzwischen Dr. phil. geworden. Ich hatte, wie ich boshaft behauptete, ihre beflissen deutsch geschriebene Dissertation nochmals ›ins Deutsche‹ übersetzt und wartete am Tag ihrer mündlichen Prüfungen jeweils mit einem
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