Wir zwei sind Du und Ich
Ärmel ihres Mantels zu fassen. Sie wehrt sich. Ihre Verzweiflung ist riesengroß. Ben kann es spüren. Also packt er Ri und drückt sie fest an sich. In seinen Armen entweicht ihre Wut, es bleiben nur die Traurigkeit und ihre Hilflosigkeit. Ri weint bittere Tränen.
Sie stehen in der steinernen Halle, wie in der Wartehalle eines großen Bahnhofs.
Dann greift Ri Ben um die schmalen Hüften und steuert mit ihm hinaus auf den weißen, eisigen Parkplatz zum roten Passat.
„Fahr mich nach Hause“, bittet sie.
Ben nickt, startet den Motor, der gegen die Kälte laut aufheult und fährt auf die Stadtautobahn Richtung Norden. Auf der Badstraße durchkreuzen sie Wedding und fahren über die Brücke am ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße zum Prenzlauer Berg.
Zwischen den beiden liegt wortloses Schweigen. Trotzdem sind sie sich nah. Sie brauchen keine Worte. Es ist wie in Kindertagen. Einfach nur sein.
„In der Eberswalder Straße wohnen wir jetzt“, durchbricht Ri die Stille. Also biegt Ben von der Schönhauser Allee direkt in die Eberswalder Straße ein und parkt auf dem Seitenstreifen.
„Kommste mit?“, fragt Ri.
„Soll ich?“
„Klaro!“
Als Ben Ris Schlüsselanhänger mit dem silbernen Stern entdeckt, den Lola ihr einst im Planetarium geschenkt hatte, muss er lächeln.
„Ri?“, fragt er. „Willste mit zu mir kommen? Micha hat bestimmt nichts dagegen.“
Ri bleibt mitten auf der Treppe stehen und dreht sich zu ihm um. „Wirklich?“
„Ich will dich nicht schon wieder verlieren“, sagt Ben.
„Das wäre super! Das Tollste, unglaublich wunderbar!“ Ri strahlt ihn an und rennt die Treppen nach oben.
In ihrem Zimmer packt sie ihre Lieblingsklamotten in eine Tasche, nimmt ihre Schulsachen mit und die Platten von Leonard Cohen.
Ben schaut sich aufmerksam um. Er liest die Buchrücken in Ris Regalen, wo er eine ganze Reihe mit Büchern über Istanbul findet. Mit seinen Fingern befühlt er die Einbände. Das Plakat von Leonard Cohen schaut er lange und neugierig an. Schließlich lässt er sich auf Ris Bett fallen, um zu sehen, wie Ri jede Nacht einschläft. Unter den Sternen und neben dem Mond.
„Ein tolles Zimmer“, sagt Ben leise. „Wie du.“ Aber Ri hört ihn nicht. Hastig stopft sie ihre Sachen in eine Tasche und schließt mit letzter Kraft den dicken Reißverschluss.
„Fertig!“, sagt sie zufrieden.
„Na dann los!“ Ben springt vom Bett auf und schnappt sich Ris Tasche.
Mit einem lauten Knall zieht Ri die Wohnungstür hinter sich zu, als könne sie damit das leise, wehmütige Gefühl wegdrücken, das sie trotz allem überkommt.
Was mit Jakob geschah
Als sie in Neukölln in der WG ankommen, ist es schon dunkel. Erschöpft lässt sich Ri auf das rote Plüschbett fallen.
„Mein Vater ist ein Arschloch“, sagt sie so überraschend, dass Ben sie für einen kurzen Moment verwirrt anstarrt. „Ich hoffe, er stirbt.“
„Das darfst du nicht sagen! Das denkst du jetzt nur, weil du wütend bist!“, entgegnet Ben und lässt sich neben Ri aufs Bett plumpsen.
„Denkst du manchmal noch an Jakob?“, fragt Ri plötzlich und unerwartet. Bens Miene verfinstert sich.
„Soll ich dir erzählen, was passiert ist?“
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortet Ben.
Ri dreht sich zu Ben auf die Seite und schaut ihn durchdringend an.
„An dem Tag als mein Vater meinte, dich beim Klauen erwischt zu haben, bin ich ja heimlich mit Jakob zur Insel gerannt. In der Hoffnung, dich dort zu finden. Wir warteten bestimmt ‘ne Stunde. Vielleicht auch zwei. Jakob schnupperte an jedem Strauch und jedem Kiesel. Ich glaube, er hat dich auch gesucht. Mit seinen kleinen tapsigen Welpenpfötchen ist er ins Wasser gelaufen und hat die Spree mutig angebellt, als wäre sie ein gefährliches Ungeheuer.“
Ben lacht. Er kann sich Jakob genau vorstellen, schließlich kannten sie ihn von klein auf. Vom Tierarzt hatten sie Ersatzmilch bekommen, ihn wochenlang mit der Flasche aufgezogen und sich heimlich um ihn gekümmert.
„Als du nicht kamst, bin ich mit Jakob zu eurer Wohnung gelaufen“, erzählt Ri weiter. „Wie hieß die Nachbarin gleich?“
„Petra.“
„Ja, Petra hat mir dann erzählt, dass du schon weg bist. Im Flugzeug – auf dem Weg nach Istanbul.“
Selbst jetzt noch schmerzt die Erinnerung an diesen Moment. Viele Jahre hatte Ri versucht, gar nicht mehr daran zu denken. Wie oft hatte sie sich gewünscht, diesen Tag noch einmal durchleben zu dürfen. Dann wäre sie nicht zum Arzt gegangen,
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