Wir zwei sind Du und Ich
hätte Ben vor ihrem Vater beschützt und ihn nicht einfach aus den Augen verloren. Sie wäre mit ihm zum Flughafen gefahren, sie hätten Adressen und Telefonnummern getauscht und sich immer mal wieder gegenseitig besucht. Alles wäre ganz anders geworden...
„Jakob und ich müssen ganz schön verzweifelt ausgesehen haben“, erzählt Ri weiter, um die unschönen Gedanken zu vertreiben. „Petra wollte uns gar nicht gehen lassen und wollte, dass wir mit reinkommen, aber ich konnte einfach nicht still sitzen. Ich dachte, wenn ich nur irgendwohin gehe, dann werde ich dich schon wiederfinden.“
Sanft streicht Ben mit seiner Hand über Ris schmalen Oberarm.
„Als wärst du nur Milch holen. Jakob und ich sind durch die Straßen im Kiez geschlichen, als könnten wir an jeder Ecke auf dich treffen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass du nicht mehr da bist. Für so lange Zeit, vielleicht für immer ...“
Draußen schlägt die Kirchturmuhr sieben Mal. Ri hält kurz inne und lauscht den Klängen nach.
„Es war schon dunkel, als wir an der großen Tür zu Hause ankamen“, sagt sie. „Der Hinterhof hat uns mit seiner gewohnten Kälte und Dunkelheit empfangen. Gerade als ich die Kellertür öffnen wollte, um Jakob zu seinem Versteck zu bringen, spürte ich plötzlich eine schwere Hand auf meiner Schulter. Ich erschrak so sehr, dass ich schreien wollte, aber aus meiner Kehle kam kein Laut.“
Ben wippt so aufgeregt mit seinem Bein, dass das ganze Bett wackelt. Er kann die Spannung kaum aushalten. Am liebsten würde er jetzt aufspringen, rausrennen. Irgendetwas völlig Sinnloses tun, nur um die Vergangenheit vergessen zu machen.
„Mein Vater hatte uns aufgelauert“, erzählt Ri weiter. „Im dunklen Hinterhof hatte ich ihn nicht sehen können. Er gab mir solch eine Ohrfeige, dass mein Kopf zur Seite flog und ich die aufflammende Röte spüren konnte. Das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass er mich geschlagen hat. ,Was ist das?‘, schrie er mich an und deutete auf Jakob. ,Unser Hund‘, flüsterte ich leise. Er sollte nicht merken, dass ich weinte. ,Unser?‘ ’Der Hund von Ben und mir‘, sagte ich tapfer. Er riss mir die Leine weg und zog mich unsanft die Treppe hoch. Jakob winselte und kniff die ganze Zeit seinen kleinen Schwanz ein. Die ganzen fünf Stockwerke schwieg mein Vater. Nur das Schluchzen von mir und Jakobs Fiepen hörte man im Treppenhaus. Erst als meine Mutter die Wohnungstür öffnete und er mich unsanft hineinschubste, sagte er barsch, fast wie eine Beschwörungsformel: ,Wir haben uns Sorgen gemacht!‘
Er hat Jakob dann ins Tierheim gebracht. Ich habe ihn nie wieder gesehen.“
„Du hast recht“, sagt Ben nach kurzem Nachdenken. „Es ist wirklich schwer, deinen Vater zu mögen.“
Beschützend legt Ben den Arm um Ri. Sie liegen ganz eng beieinander. Ri kann seinen gleichmäßigen Atem auf ihrer Haut spüren. Ben riecht nach Honig, süß und verlockend. Als er eine Haarsträhne aus Ris Gesicht streicht, berühren seine Finger ihre Stirn. Gänsehaut überkommt sie bei seiner Berührung. Wie ein plötzlicher weicher Regenschauer.
Sie schaut auf Bens weiche Lippen. Sanft küsst sie ihn – ihre Lippen auf seinen – vereint in einem Moment Unendlichkeit.
Ein Abend voller Überraschungen
„Ri?“
„Hm?“, seufzt Ri zufrieden.
„Ich muss dir etwas sagen“, druckst Ben herum.
„Du bist schwul“, sagt Ri schnell und schaut lächelnd in Bens erstauntes Gesicht.
„Du weißt es?“, fragt er verwundert.
„Ich hab’s mir gedacht“, sagt Ri gelassen. „Micha, das Romeo ...“
„Aber ...“
„... der Kuss?“, nimmt Ri seine Frage vorweg. „Ich wollte dich wenigstens ein einziges Mal küssen.“
Ben kann nur staunen.
Sie kichern und Ri wirft Ben ein Kissen ins Gesicht. Ausgelassen tollen sie auf dem Bett herum.
An diesem Abend sind sie einfach nur glücklich. Die dunkle Wolke mit ihrem Vater schwebt zwar die ganze Zeit über Ri, aber sie hat beschlossen, einfach nicht hinzusehen.
Als Micha nach Hause kommt, findet er die beiden in der Küche. Sie bewerfen sich mit Mehl und albern ausgelassen herum.
„Na ihr seid ja schon wieder gut drauf“, wundert sich Micha.
„Wir machen Pizza“, sagt Ri und bläst Ben eine weiße Mehlwolke ins Gesicht, der dem Angriff allerdings geschickt ausweicht.
„Wir haben beschlossen, für einen Abend alles Schlimme und Traurige zu vergessen“, erklärt Ben Micha, der im gleichen Moment einen Klumpen Pizzateig von Ri an den
Weitere Kostenlose Bücher