Wir zwei sind Du und Ich
nur Schulfreunde eben. Niemanden, mit dem ich mich auch nachmittags oder abends treffen konnte. Ihr müsst wissen, in Istanbul gibt es sehr gute Privatschulen. Weil mein Vater aber nicht viel Geld hatte, musste ich auf eine der weniger guten staatlichen Schulen in einer ziemlich üblen Gegend gehen. Tarlaba ς I heißt das Viertel. Dort haben wir auch gewohnt.“
In Gedanken sieht Ri den kleinen Ben durch die verwinkelten Gassen Istanbuls laufen. „Ich habe mir lauter Bücher über Istanbul gekauft“, gesteht sie. „Beim Betrachten der Bilder habe ich mir vorgestellt, wie du dort hindurchspazierst. Als könnte ich so bei dir sein, ich weiß auch nicht ...“
„Na, du bist ja ‘ne Süße“, sagt Micha und Ri spürt, wie ihr die Röte ins Gesicht steigt.
„Und wie war es in Tallabtsche?“, fragt sie schnell, um von sich und ihrer Gesichtsfarbe abzulenken.
„Tarlaba ς I“, verbessert Ben. „Ein Underdog-Viertel. Dort gibt es täglich Schlägereien und Messerstechereien zwischen verfeindeten Banden.“
„Echt?“, fragt Micha. Ri guckt entsetzt.
„Klar. Aber so schlimm war’s auch nicht“, sagt Ben beschwichtigend. „Wie ihr seht, lebe ich noch und meinen Schulabschluss habe ich sogar auch gemacht.“
„Jetzt klingst du aber mächtig erwachsen!“, zieht Micha Ben auf und Ri kichert.
Ben guckt verwirrt.
„Hauptsache du bist jetzt hier“, sagt Micha dann und tätschelt Ben den Arm.
Ri nickt zustimmend.
„Hmm“, murmelt Ben nachdenklich. „Das Einzige, was mich über die schlimme Zeit dort gerettet hat, war der Gedanke an Ri und der Zauber von Istanbul.“
„Was ist denn der Zauber von Istanbul?“
„Die Schönheit der Stadt. Die Hügel, die verwinkelten Gassen, die bunten Basare, der Bosporus. Wenn ich Zeit und Geld hatte, saß ich in irgendeinem der vielen Cafés am Bosporus, schaute den großen Frachtern und Containerschiffen aus der weiten Welt nach, die zwischen Europa und Asien hindurch fuhren. Manchmal stellte ich mir vor, einfach einzusteigen, mitzufahren, um irgendwann in Deutschland anzukommen. Wenn es Frühling in Istanbul war, spazierte ich am liebsten durch die Altstadt am Goldenen Horn. Wunderschöne alte Holzhäuser, Kopfsteinpflaster und überall dunkle Kneipen, die Menschen aller Klassen anziehen. Dazwischen ragen die Hagia Sofia und die blaue Moschee über allem – wie Sonne und Mond.“
Ri und Micha hören gespannt zu. Diese fremde Welt, von der er erzählt, ist für beide unvorstellbar und anziehend zugleich.
„Aber glaubt mir, nirgendwo ist es so schön wie in Berlin! Ich kann das Gefühl gar nicht wirklich beschreiben, als ich vor sechs Wochen endlich in Tegel gelandet bin und die kalte Berliner Luft mir entgegenschlug.“
„Ich kann mir schönere Momente vorstellen“, scherzt Micha und reibt seine Arme aneinander, als wäre ihm furchtbar kalt.
„Ja stimmt, der schönste aller Momente war gestern Abend, als ich Ri endlich wiedergefunden habe!“
Verträumt lächelt Ri Ben an. Wie oft hatte sie sich das Wiedersehen in den buntesten Farben ausgemalt. Und jetzt sitzen sie sich einfach gegenüber, lachen, reden und frühstücken. Als wäre es nie anders gewesen.
Neues vom Pinguin
„Ich muss mal für kleine Mädchen“, sagt Micha und schlurft zum Badezimmer. „Da vibriert ein Handy in deinem Zimmer“, ruft er noch, bevor er im Bad verschwindet.
Ben steht auf, eilt in sein Zimmer und kommt mit Ris Handy zurück.
„War schon weg, Prinzessin!“
„Macht nichts“, antwortet Ri, die jetzt die Tasten auf ihrem Handy drückt, um zu sehen, wer angerufen hat.
„Fünfzehn entgangene Anrufe“, sagt sie leise. „Alle von meinen Eltern.“ Schuldig und hilflos guckt sie Ben an.
„Mensch, Ri! Sag ihnen doch wenigstens Bescheid, dass es dir gut geht. Oder willst du, dass sie sich Sorgen machen?“
Ri zögert. Sie weiß nicht, ob sie sich nicht genau das wünscht. Warum sollten sie sich nicht auch mal Sorgen machen? Schlecht fühlen. So wie Ri.
In diesem Moment vibriert ihr Handy erneut und das Display blinkt Ri aufgeregt entgegen.
„Meine Mutter!“ Sie schaut Ben an und unter seinem flehenden Blick nimmt sie ab.
„Ja?“
„Ri?“
Stille. Ri kann nichts sagen. Ein riesiger Kloß steckt in ihrem Hals.
„Ri? Ri? Bist du da?“
Die Stimme ihrer Mutter klingt schrecklich, voller Sorge, kratzig und rau.
„Ja.“
„Geht es dir gut, Ri?“
„Alles klar, Mama!“
„Ich bin so froh, deine Stimme zu hören. Wo hast du denn gesteckt?“
„Ich
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