Wirbelsturm
mein blauäugiger Johnny«, hatte sie ihm am letzten Tag gesagt. »Ich weiß. Wenn es auch nicht wiederkommt, kann ich doch glücklich sterben, denn ich weiß, was Liebe ist. Wahrhaftig, ich liebe dich, Azadeh.« Der letzte Kuß. Dann hinunter zu seinem Zug. Winken zum Abschied, bis sie verschwunden war. Für immer verloren. Könnte sein, wir beide wußten, daß es für immer war, dachte er, während er im Dunkel der kleinen Hütte wartete und versuchte, eine Entscheidung zu treffen: weiter warten, sich wieder niederlegen oder fliehen. Vielleicht ist es doch so, wie der Khan sagte, daß wir hier relativ in Sicherheit sind – für den Augenblick jedenfalls. Kein Grund, ihm zu mißtrauen. Vien Rosemont war kein Dummkopf, und er sagte: »Vertraue …«
»Sahib!«
Im gleichen Augenblick hatte auch er die leisen Schritte gehört. Beide Männer gingen in Deckung, und beide waren froh, daß die Zeit zum Handeln gekommen war. Die Tür ging auf. War es ein dämonischer Berggeist, der da stand und in die tiefe Finsternis der Hütte starrte? Zu seiner Überraschung erkannte Ross Azadeh; ihr Tschador verschmolz mit der Nacht, ihr Gesicht war von Tränen aufgeschwollen.
»Johnny?« flüsterte sie angstvoll.
»Azadeh? Hier, neben der Tür.«
»Folgt mir, schnell! Ihr seid beide in Gefahr. Beeilt euch!« Und schon lief sie in die Nacht hinaus.
Er sah, wie Gueng voll Unbehagen den Kopf schüttelte, und schwankte. Doch dann entschied er: »Wir gehen.« Er schlüpfte aus der Tür und lief ihr nach, Gueng schloß sich ihm an. Sie wartete unter einigen Bäumen. Noch bevor er sie erreicht hatte, bedeutete sie ihm mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. Ohne zu zögern eilte sie durch den Obstgarten und um einige Wirtschaftsgebäude herum. Der Schnee dämpfte ihre Schritte, aber sie hinterließen Spuren, und das machte Ross Sorgen. Er war zehn Schritte hinter ihr, achtete sorgfältig auf das Terrain und fragte sich: Welche Gefahr droht uns, warum hat sie geweint, und wo ist Erikki?
Die Wolken gaben jetzt kurz den Mond frei und zogen über ihn hinweg. Immer, wenn er klar am Himmel stand, hielt Azadeh an und bedeutete auch den beiden Männern, stehenzubleiben und zu warten. Dann eilte sie weiter, suchte geschickt Deckung, und Ross fragte sich, wo sie wohl gelernt hatte, sich auf waldigem Gelände so sicher zu bewegen. Bald hatten sie die große Mauer erreicht, die den ganzen Besitz umschloß. Die Mauer, drei Meter hoch und aus roh behauenen Steinen, war durch eine breite leere Schneise von den Bäumen getrennt. Wieder bedeutete Azadeh ihnen, in Deckung zu bleiben, ging weiter und suchte offenbar eine bestimmte Stelle. Sie fand sie ohne Schwierigkeiten und winkte die Männer heran. Noch bevor sie neben ihr standen, kletterte sie bereits hoch. Ihre Füße paßten genau in die Spalten und Kerben, und es gab genügend natürliche Haltemöglichkeiten, aber auch geschickt in die Mauer eingefügte, um das Klettern zu erleichtern. Der Mond kam wieder hinter den Wolken hervor. Ross fühlte sich nackt und schutzlos und kletterte rascher. Als er die Mauerkrone erreicht hatte, war sie auf der anderen Seite schon auf halbem Wege wieder hinunter. Er rutschte hinüber, fand einige sichere Fugen, duckte sich und wartete, bis auch Gueng so weit war.
Der Abstieg war schwieriger; er rutschte aus und fiel fast zwei Meter hinunter. Er stieß Verwünschungen aus, sah sich um und versuchte sich zu orientieren. Azadeh hatte die Einfriedungsstraße bereits überquert und eilte auf eine felsige Lichtung in einem 200 Meter entfernten steilen Berghang zu. Gueng landete sauber neben ihm, lachte und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Doch als sie die Lichtung erreichten, war sie verschwunden.
»Johnny! Hier!«
Er sah den engen Spalt im Fels, der gerade noch genügend Platz ließ, um sich durchzuzwängen. Er wartete auf Gueng und drang in die Finsternis ein. Ihre Hand kam ihm entgegen und führte ihn seitwärts, dann holte sie auf die gleiche Art Gueng ins Innere. Vor den Spalt schob sie einen dicken Ledervorhang. Ross wollte seine Taschenlampe herausholen, aber schon flammte ein Zündholz auf. Sie kniete und zündete eine Kerze in einer Nische an. Rasch sah er sich um. Der Vorhang schien lichtundurchlässig zu sein. Die Höhle war geräumig, warm und trocken. Ein paar Decken und alte Teppiche lagen auf dem Boden, Speise- und Trinkutensilien, Bücher und Spielsachen standen auf einem Felssims. Das Versteck eines Kindes, dachte er und bot ihr Wasser aus seiner
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