Wirbelsturm
nicht nach Tiflis gebracht werden. Auch für Erikki ist es sicherer, wenn ich jetzt weglaufe. Viel sicherer.«
»Was redest du da? Du kannst nicht einfach weglaufen. Das ist doch Wahnsinn! Was ist, wenn Erikki heute abend zurückkommt, und du bist fort?«
»Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen. Wir haben ein Versteck in unserem Zimmer. Wir wußten ja nicht, was Vater während seiner Abwesenheit tun würde. Erikki wird wissen, wie er sich verhalten muß. Und da ist noch etwas. Heute mittag fährt Vater zum Flughafen. Er erwartet dort ein Flugzeug, jemanden aus Teheran. Ich weiß nicht, wer es ist und um was es geht, aber ich dachte, du könntest es vielleicht einrichten, daß man uns nach Teheran mitnimmt … Oder wir könnten uns an Bord schleichen … oder du könntest sie zwingen, uns mitzunehmen?«
»Du bist verrückt«, erwiderte Ross zornig. »Es ist doch Wahnsinn, fortzulaufen und Erikki zurückzulassen. Woher willst du wissen, daß nicht alles doch so ist, wie dein Vater gesagt hat? Du behauptest, der Khan haßt dich und ihn … Ob das nun zutrifft oder nicht, wenn du wegläufst, bekommt er einen Tobsuchtsanfall. So oder so bringst du Erikki nur noch mehr in Gefahr.«
»Wie kannst du denn nur so blind sein? Verstehst du denn nicht? Solange ich hier bin, hat Erikki überhaupt keine Chance. Wenn ich weg bin, braucht er nur an sich selbst zu denken. Wenn er herkommt und hört, daß ich in Tiflis bin, kommt er mir nach und ist für immer verloren. Begreifst du denn nicht? Ich bin der Köder! Mach doch endlich die Augen auf, Johnny!« Er hörte sie weinen, leise weinen, und das steigerte noch seine Wut.
Verdammt noch mal, wir können sie doch nicht mitnehmen! Unmöglich! Wenn das wahr ist, was sie sagt, zieht der Khan in ein paar Stunden eine Großfahndung nach uns auf – und dann können wir von Glück sagen, wenn wir den Abend noch erleben. In ein paar Stunden? Die Fahndung läuft wohl schon. So ein Unsinn: weglaufen! »Du mußt zurück. Es ist besser so«, sagte er.
Sie hörte auf zu weinen. »Wenn du meinst, Johnny«, sagte sie mit veränderter Stimme. »Dann solltest du gleich losgehen. Du hast nicht viel Zeit. Welche Richtung willst du einschlagen?«
»Das weiß ich nicht. Komm jetzt! Ich bring dich zurück.«
»Das brauchst du nicht. Ich … ich bleibe noch eine Weile hier.«
Er hörte die falschen Töne und seine Nerven gaben noch dringlicheren Alarm. »Du gehst jetzt zurück! Du mußt!«
»Nein«, widersprach sie trotzig. »Ich kann nie mehr zurück. Ich bleibe hier. Er wird mich nicht finden. Ich habe mich schon einmal tagelang hier versteckt. Hier bin ich sicher. Mach dir keine Sorgen um mich! Du mußt jetzt los.«
Er setzte sich vor sie hin. Ich kann sie doch nicht ihrem Schicksal überlassen! ging es ihm durch den Kopf. Ich kann sie auch nicht gegen ihren Willen zurückbringen, noch kann ich sie mitnehmen. Kann sie nicht dalassen, kann sie nicht mitnehmen. Natürlich kannst du sie mitnehmen, aber wenn man sie schnappt, wird man ihr Beteiligung an Sabotageakten und weiß der Himmel was noch alles vorwerfen – und dafür werden Frauen hierzulande gesteinigt. »Wenn der Khan erfährt, daß wir mit dir geflohen sind, wird er wissen, daß du uns gewarnt hast. Wenn du hierbleibst, wird man dich früher oder später finden, und dann sieht es noch schlimmer aus: für dich und deinen Mann. Du mußt zurück!«
»Nein, Johnny. Ich bin in Allahs Hand, und ich habe keine Angst. Du kannst mir wie Erikki eine Handgranate dalassen. Aber in Allahs Hand bin ich sicher. Bitte, geh jetzt!«
»Inscha'Allah«, sagte er entschlossen. »Wir gehen beide zurück, und Gueng soll allein sein Glück versuchen.« Er stand auf.
»Warte!« Er hörte sie aufstehen und fühlte ihre Nähe und ihren Atem. Ihre Hand berührte seinen Arm. »Nein, mein Liebling«, sagte sie, »damit würden wir meinen Erikki vernichten – und auch dich und deinen Corporal. Daß du das nicht begreifen willst! Ich bin das Werkzeug, um Erikki zu erledigen. Nimm dem Khan das Werkzeug, und Erikki hat eine Chance. Außerhalb der Mauern meines Vaters hast auch du eine Chance. Wenn du Erikki siehst, sag es ihm …«
Was soll ich ihm sagen, fragte er sich. Im Dunkeln nahm er ihre Hand in die seine, fühlte ihre Wärme und kehrte im Geist ins Berner Oberland zurück, wo sie zusammen im Dunkel in dem großen Bett gelegen hatten, während ein heftiger Gewitterregen gegen die Fenster peitschte. Gemeinsam hatten sie die Sekunden zwischen
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