Wirbelsturm
Raum lag in trüber Dämmerung. Enorm groß, überladen, zugig und frostig, aber er war das Schlafzimmer des Khans. Im Kamin brannte ein helles Feuer; der Wächter hatte es die Nacht über geschürt. Sonst durfte keiner ins Zimmer, nicht einmal Ahmed. Bis eine Entscheidung in bezug auf die 53 Wächter im Palast gefallen war, hatte er Ischtar als Leibwächter ausgesucht. Wo soll ich die Männer finden, denen ich vertrauen kann? fragte er sich, während er aus dem Bett stieg und in den warmen Brokatschlafrock schlüpfte – einer von fünfzig, die er im Schrank gefunden hatte. Er wandte sich nach Mekka, kniete vor dem offenen Koran nieder und sprach das erste Gebet des Tages. Es gibt so viel, wofür ich Allah danken muß, dachte er, so viel, was ich noch lernen muß – aber einen wunderbaren Anfang habe ich schon gemacht.
Gestern, kurz nach Mitternacht, hatte er vor der versammelten Familie den aus Gold und Smaragden gearbeiteten Ring – Symbol des alten Khanats – vom Zeigefinger der rechten Hand seines Vaters genommen und ihn an seinen eigenen gesteckt. Er hatte den Ring nur mit Mühe über einen Fettwulst geschoben und seine Nase vor dem Gestank des Todes verschließen müssen, der im Raum hing, doch seine Erregung war stärker gewesen als der Ekel. Nun fühlte er sich wahrlich als Khan. Alle anwesenden Familienmitglieder waren vor ihm niedergekniet, hatten seine beringte Hand geküßt und ihm Treue geschworen – Azadeh stolz als erste, anschließend Ayscha, zitternd und verängstigt, und dann die anderen, Najoud und Mahmud, nach außen hin verächtlich; in Wahrheit waren sie jedoch dankbar für die ihnen gewährte Gnade.
Unten in der großen Halle – Azadeh stand hinter ihm – hatten auch Ahmed und die Leibwächter einen Treueeid geschworen. Der Rest der großen Familie, zusammen mit anderen Stammesführern, Personal und Dienerschaft waren später an der Reihe. Zugleich hatte er Verfügungen über die Bestattung getroffen und erst dann seinen Blick auf Najoud fallen lassen. »Also.«
»Hoheit«, richtete Najoud salbungsvoll das Wort an ihn, »vor Allah und von ganzem Herzen beglückwünschen wir dich und schwören, dir bis an die Grenzen des Möglichen zu dienen.«
»Ich danke dir, Najoud«, antwortete er. »Danke. Ahmed, welches Urteil hat der Khan vor seinem Tod über meine Schwester und ihre Familie gesprochen?« Im Saal herrschte atemlose Spannung.
»Verbannung, mittellos in das Ödland nördlich von Mesched, Hoheit. Unter Bewachung und sofort.«
»Ich bedaure, Najoud, aber du und deine ganze Familie, ihr werdet morgen bei Tagesanbruch, wie Vater es verfügt hat, den Palast verlassen.«
Er erinnerte sich, wie Najoud und Mahmud aschfahl geworden waren. »Aber, Hoheit …«, stammelte sie. »Jetzt bist du der Khan, und dein Wort ist Gesetz. Ich hätte nicht erwartet … wo du doch jetzt der Khan bist.«
»Aber der Khan, unser Vater, hat dieses Urteil gesprochen, als er Khan war, Najoud. Ein Urteil, das er auf seinem Totenbett gesprochen hat.«
»Aber, Hoheit«, Najoud trat näher an ihn heran. »Bitte, können wir … können wir das nicht unter vier Augen besprechen?«
»Besser hier vor der Familie, Najoud. Was wolltest du mir mitteilen?«
Sie kam noch näher, und er sah, wie Ahmeds Hand nach seinem Messer griff. »Nur weil Ahmed sagt, der Khan hätte einen solchen Befehl gegeben, heißt das doch noch nicht, daß … nicht wahr?« Najoud hatte versucht zu wispern, aber ihre Worte hallten von den Wänden zurück.
Ächzend stieß Ahmed hervor: »Ich soll in aller Ewigkeit in der Hölle braten, wenn ich gelogen habe!«
»Ich weiß, daß du nicht gelogen hast, Ahmed«, beruhigte ihn Hakim. »War ich denn nicht anwesend, als der Khan diesen Beschluß faßte? Ich war dabei, Najoud, und auch die Gnädigste, meine Schwester. Ich bedaure nur …«
»Aber du kannst doch barmherzig sein!« rief Najoud. »Bitte sei barmherzig!«
»Aber das bin ich doch, Najoud. Ich verzeihe dir. Unser Vater hat diese Strafe über dich verhängt, weil du im Namen Allahs gelogen hast, nicht weil du über meine Schwester und mich Lügen erzählt und uns damit kummervolle Jahre beschert hast. Natürlich verzeihe ich dir das, nicht wahr, Azadeh?«
»Gewiß, gewiß, das ist dir verziehen.«
»Ja, das ist dir verziehen, aber unter Anrufung Allahs zu lügen? Der Khan hat das Urteil gefällt. Ich kann es nicht umstoßen.«
Najouds Winseln übertönend, stieß Mahmud hervor: »Ich wußte nichts davon, Hoheit,
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