Wirbelsturm
irre. Er fürchtete, was man nicht fürchten sollte, wünschte, was man nicht haben kann. ›Azadeh‹, murmelte er. ›Azadeh‹ bedeutet ›frei geboren‹, ist aber auch ein weiblicher Vorname. Dann ›Erri‹ oder ›Ekki‹ oder ›Kookri‹ und dann wieder ›Azadeh‹. Er hatte Frieden mit sich gemacht, aber auch nicht ganz, obwohl er nie weinte oder aufschrie, wie viele es tun, wenn sie sich der Schwelle nähern.« Sie spielte mit der Uhr, die sie an einer Kette trug. »In der Nacht phantasierte er in einer Sprache, die ich noch nie gehört habe. Ich spreche Englisch, ein wenig Französisch und viele arabische Dialekte, aber diese Sprache habe ich nie zuvor gehört. ›Azadeh‹ kam immer wieder vor, aber auch Wörter wie …« – sie kramte in ihrem Gedächtnis – »… ›Regiment‹ und ›Edelweiß‹ und ›Oberland‹ und manchmal auch Wörter wie ›Gueng‹ und ›Tenzing‹, dann auch ein Name wie ›Rosen‹ oder ›Rosemont‹. Vielleicht war es auch ein Ort, aber das Wort schien ihn traurig zu machen.« Sie sah ihn aus wäßrigen alten Augen an. »Ich kenne den Tod, Effendi, kenne ihn gut. Er ist immer anders, immer gleich. Und dieser Mann schied in Frieden dahin, mit einem Seufzer. Ich glaube, er ging ins Paradies, wenn Christen ins Paradies kommen, und fand dort seine Azadeh …«
65
Täbris – im Palast des Khans: 15 Uhr 40. Langsam ging Azadeh den Flur hinunter, der zum Blauen Salon führte, wo ihr Bruder sie erwartete. Nach der Explosion der Handgranate am Vortag machte ihr der Rücken immer noch zu schaffen. Gott im Himmel, war es erst gestern gewesen, daß die Bergbewohner und Erikki uns beinahe getötet hätten? Mir kommt es eher vor wie 100 Tage, ein Lichtjahr der Gefahr, das wir durchlebt haben.
Es war eine andere Zeit, in der nichts gut war außer meiner Mutter, Erikki und Hakim, Erikki und … Johnny. Für Hakim und mich war es eine Zeit des Hasses und des Tötens, des Terrors und des Wahnsinns. Um uns das Böse: das Entsetzen an der Straßensperre von Qazvin, dieser widerlich feiste Mudjaheddin, an den Wagen gequetscht wie eine schillernde Schmeißfliege, die Wahnsinnstat unserer Rettung durch Charlie und den KGB-Mann – wie hieß er doch gleich? Ach ja, Rákóczy –, der Wahnwitz in Abu-Mard, der mein Leben für immer verändert hat, der Irrsinn auf dem Stützpunkt, wo Erikki und ich so schöne Tage verbrachten und wo Johnny so viele Menschen so schnell und so grausam tötete.
Gestern abend hatte sie Erikki alles erzählt – fast alles. »Er wurde zu einer mörderischen Bestie. Nur Erinnerungsfetzen sind mir geblieben. Ich sehe, wie er den Stützpunkt stürmt … Handgranaten und Maschinengewehre … einer der Männer mit einem kookri. Johnny, der aufheulend einen abgetrennten Kopf hochhält … Es war Guengs kookri, Johnny hat es mir in Teheran erzählt.«
»Laß den Rest für morgen, mein Liebstes! Geh schlafen! Du bist jetzt in Sicherheit.«
»Nein, nein. Ich habe Angst zu schlafen, selbst jetzt in deinen Armen … Im Schlaf bin ich wieder im Dorf, in Abu-Mard, und da sind dieser gottverfluchte Mullah, der Kalandar und der Fleischer mit seinem Messer …«
»Es gibt kein Dorf mehr und keinen Mullah, keinen Kalandar und keinen Fleischer; ich bin dort gewesen. Ahmed hat mir von dem Dorf erzählt und was dort geschah.«
»Du warst dort?«
»Ja, heute nachmittag, während du geruht hast. Ich nahm einen Wagen und fuhr hin. Es ist nur mehr ein einziger Schutthaufen.«
Nun blieb Azadeh im Flur einen Augenblick stehen. Sie hielt sich fest, um das Zittern abebben zu lassen. So viel Tod und Entsetzen! Als sie gestern auf die Treppe des Palastes hinausgetreten war und im Cockpit Erikki gesehen hatte, dem das Blut über das Gesicht und in seinen Stoppelbart lief, während noch mehr Blut aus seinem Ärmel tropfte, Ahmed zusammengesunken neben ihm, hatte sie geglaubt, sterben zu müssen. Doch als sie dann gesehen hatte, wie er herauskletterte, groß und stark dastand, auf sie zuging, um sie, deren Beine versagten, in die Arme zu nehmen, war sie von neuem zum Leben erwacht. »O Erikki, ich hatte solche Angst …«
Er hatte sie in den großen Saal getragen, und da waren auch der Arzt, Hakim und Robert Armstrong sowie Oberst Haschemi Fazir. Eine Kugel hatte Erikki ein Stück seines linken Ohres weggerissen, eine andere ihn am Unterarm verletzt. Der Arzt hatte seine Wunden kauterisiert und verbunden und ihm Tetanus-Schutzserum und Penicillin gespritzt.
Weitere Kostenlose Bücher