Witch Boy: Stadt der Geister (German Edition)
tappte auf nackten Füßen zum Fenster. Seth öffnete es und genoss die klare, frische Luft, die sofort auf seine Haut traf. Sonst war er kein Freund davon, sich Sonnenaufgänge anzusehen, doch der Ausblick aus dem Fenster zur Straße hin verführte sogar ihn zum Innehalten und Genießen.
An den Blättern der Bäume, an Antennen, Fensterscheiben und Autodächern und sogar in dem auf wundersame Weise heil gebliebenen Spinnennetz direkt vor seiner Nase hingen Wassertropfen und funkelten wie kleine Diamanten.
Aus einer Laune heraus nahm er sein Smartphone und schoss ein Foto davon. Er hatte keine großen Erwartungen, aber das Bild gelang ihm überraschenderweise sehr gut. Anschließend trank er ein paar Schlucke Wasser direkt aus dem Hahn und setzte sich mit seinem neuen Buch auf die schmale Fensterbank.
Die Sonne schien direkt auf den Einband und ließ das speckige, alte Leder mitsamt seinem goldenen Aufdruck glänzen. Kleine, runde Schatten von den Wassertropfen auf der Scheibe und im Spinnennetz machten den Anblick noch etwas geheimnisvoller, als er ohnehin schon war.
Seth fühlte die Neugier zurück kommen und schlug die erste Seite auf. Allein das Inhaltsverzeichnis war vier Seiten lang und hatte von A wie Abelmoschus bis Z wie Zypresse anscheinend alles zu bieten, was die Fauna hergab. Rasch suchte er sich eine der wenigen Pflanzen heraus, die er aus der Küche kannte, und schlug die entsprechende Seite auf.
„Wollen wir doch mal sehen, was du so kannst, Rosmarin.“ Er runzelte genervt die Stirn. „Wenn ich diese Schrift lesen kann, heißt das.“
Sein Handy vibrierte. Es war eine neue Textnachricht, natürlich von Clyde. Keiner seiner Freunde würde ihn so früh nerven, wenn es nicht lebenswichtig war. Unwillig rief Seth sie auf. Dabei sah er das Foto aus Clydes Nachruf vor sich und atmete tief durch.
- Yo, du bist aber früh wach. Was liest du da?
„Hey, Blackghostie. Irgendwas über Pflanzen “, erwiderte Seth.
- LOL, Streber. Hast nix Besseres vor?
Augenrollend streckte Seth seine Beine aus und legte das Buch auf seinen Knien ab. „Ich weiß nicht mal, ob ich noch Hausarrest habe, wie kann ich da was Besseres vorhaben? “
- Auch wahr. Sieht voll Oldschool aus, das Teil. Echt schick!
„Ja, es ist nicht übel. Uh, weißt du …“ Seth kaute unschlüssig auf seiner Unterlippe herum, doch dann sprach er aus, was ihm auf den Nägeln brannte. „Ich, äh, habe dich gestern mal im Internet gestalkt …“
Es verging eine angespannte Minute, dann vibrierte das Handy.
- Und?
„Wir reden nicht drüber “, versprach Seth eilig. „Ich wollte nur … ich meine, ich hab dein Foto gesehen und … keine Ahnung. Kann ich es für deinen Telefonkontakt nehmen? Ist irgendwie cooler, als mit einem Geisterkontakt zu quatschen.“
- Har-har.
„Sorry, so meinte ich das nicht. “
- Wieso nicht? Stimmt doch.
Seth seufzte. „Ich hätte nicht fragen sollen, oder? “
Diesmal dauerte es noch länger, bis eine Antwort kam. Und als sie kam, traute er sich für lange Momente nicht, die Nachricht zu lesen. Die Absurdität, mit einem Geist Knatsch zu haben, war ihm nur zu bewusst.
- Nah, ist in Ordnung.
- Ich meine, mich hat seit Jahren keiner mehr sehen können.
„Wirklich? “
- Es ist cool, Mann. Zurück unter den Lebenden, jedenfalls fast. Das hat was!
Dem konnte Seth nur zustimmen. „Wenn wir texten, guckt mich wenigstens keiner komisch an. “
- Nur Mädels kommen damit durch, siehe Melinda Gordon. Die ist heiß, der verzeiht man sowas.
„Wenigstens siehst du ein, dass du mich in Schwierigkeiten bringen würdest. “ Seth grinste. „Und jetzt sag mal an, ob du in der Schule gut warst. Wenn du schon hier rumhängst, kannst du dich nämlich auch nützlich machen.“
- Ich muss weg …
„Du kannst mir nicht entkommen! “, rief Seth der schwindenden Kälte hinterher. „Ab Montag habe ich Online-Unterricht und du leidest gefälligst mit mir!“
Das Telefon rührte sich nicht, und Stille kehrte wieder ein. Grinsend nahm Seth sein Buch wieder auf und entzifferte den Text, bis sein Vater ihn zum Frühstück rief.
oOo
Seth konnte kaum fassen, dass seine Mutter ihn tatsächlich nicht nur aus dem Hausarrest entlassen hatte, sondern ihn sogar höchstpersönlich zu seinem ersten Arbeitseinsatz bei Gretchen fuhr. Allerdings war ihre gute Tat dann doch nicht so uneigennützig, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Wie ein Adler stürzte sie sich auf
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