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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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griff nach seinem Zeigefinger, steckte ihn in den Mund und sah ihn hinterlistig an. Als sein Finger sauber war, ließ sie ihn wieder los.
    »Hör auf mit deiner Moralpredigt. Lass mich in Ruhe«, sagte sie lächelnd.
    »Du bist dabei, dich zu verändern, Susan.«
    »Lass mich heute Abend bei dir schlafen. Ich hab keine Lust zurückzufahren.«
    Er beglich die Rechnung, und sie gingen. Auf dem Weg zum Wagen schlang sie den Arm um seine Taille und legte den Kopf an seine Schulter.
    »Die Einsamkeit wird zu einem großen Problem für mich, und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, sie nicht mehr in den Griff zu bekommen.«
    »Geh zurück nach Hause.«
    »Willst du nicht, dass ich bleibe?«
    »Ich spreche nicht von heute Abend, sondern von deinem Leben. Du solltest in dein Land zurückkehren.«
    »Ich gebe nicht auf.«
    »Gehen ist nicht immer aufgeben, es ist auch eine Art, das Erlebte zu bewahren, wenn man geht, bevor es zu spät ist. Lass mich ans Steuer, ich fahre.«
    Der Motor spuckte eine schwarze Rauchwolke aus, als er ansprang. Thomas schaltete die Scheinwerfer ein, deren weiße Lichtkegel über die Mauern strichen.
    »Wie wär's mit einem Ölwechsel, sonst lässt dich die Kiste noch im Stich.«
    »Keine Sorge, ich bin es gewöhnt, im Stich gelassen zu werden.« Susan lümmelte sich auf ihren Sitz, steckte die Beine aus dem Fenster, stellte die Füße auf den Außenspiegel und schwieg den Rest der Fahrt. Als Thomas den Wagen vor seinem Haus parkte, machte Susan keine Anstalten auszusteigen.
    »Erinnerst du dich an die Träume deiner Kindheit?«, fragte sie.
    »Ich kann mich kaum an die der letzten Nacht erinnern«, antwortete er.
    »Nein, ich meine, was du geträumt hast, einmal zu werden, wenn du erwachsen bist.«
    »Ja, ich erinnere mich, ich wollte Arzt werden, und jetzt bin ich Leiter einer Ambulanz. Im Kreuzfeuer sozusagen, aber nicht im Zentrum.« »Ich wollte Malerin werden, um die Welt in den schönsten Farben zu malen, und Philip wollte Feuerwehrmann werden, um Menschen zu retten. Jetzt ist er kreativ in der Werbung, und ich arbeite im humanitären Bereich. Irgendwas müssen wir beide durcheinander gebracht haben.«
    »Das scheint nicht der einzige Bereich zu sein, in dem ihr etwas durcheinander bringt.«
    »Was soll das heißen?«
    »Du redest viel von ihm, und jedes Mal, wenn du seinen Namen aussprichst, wird deine Stimme melancholisch; das ist ziemlich eindeutig.«
    »Eindeutig inwiefern?«
    »Ach, tu doch nicht so! Du liebst diesen Mann, und das macht dir schreckliche Angst.«
    »Komm, lass uns reingehen. Mir wird allmählich kalt.«
    »Wie bringst du es fertig, so viel Mut für andere aufzubringen und so wenig für dich selbst?«
    Am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe schlüpfte sie geräuschlos aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen davon.
    Der Monat März verging wie im Flug. Jeden Abend, wenn er das Büro verließ, machte er sich auf den Weg zu Marys Wohnung. Wenn er bei ihr übernachtete, sparten sie jeden Morgen zehn kostbare Minuten. Am Freitag wechselten sie dann das Bett, um das Wochenende in seinem Atelier in SoHo, das sie ihr »Landhaus« getauft hatten, zu verbringen. In den ersten Apriltagen blies ein eisiger Nordwind durch die Stadt. Die Knospen der Bäume waren noch nicht aufgesprungen, und nur der Kalender wies darauf hin, dass eigentlich der Frühling begonnen hatte.
    Mary avancierte bei der Cosmopolitan zur Journalistin, und sie fand, dass es Zeit wurde, einen neuen Ort für ihre jeweiligen Möbel und ein gemeinsames Leben zu finden. Sie vertiefte sich in die Annoncen auf der Suche nach einer Wohnung in Midtown. Die Mieten waren dort noch erschwinglich, und sie hätten beide einen kürzeren Weg zur Arbeit.
    Susan verbrachte die meiste Zeit am Steuer ihres Jeeps, fuhr von Dorf zu Dorf, um Saatgut und Lebensmittel zu verteilen. Der Weg führte sie manchmal zu weit weg, als dass sie abends ins Dorf hätte zurückkehren können, und sie unternahm jetzt immer öfter mehrtägige Reisen, um bis an die äußersten Grenzen der Täler zu gelangen. Zweimal traf sie auf sandinistische Truppen, die sich in den Bergen verschanzt hatten, und wunderte sich, dass sie sich so weit von der Grenze entfernten. Der Monat April schien nicht enden zu wollen. Inzwischen verriet selbst ihr Körper, wie sehr ihr dieses Leben zusetzte. Schlafstörungen führten dazu, dass sie jeden Abend ausging und morgens kaum aus dem Bett kam. Eines Tages, die Sonne stand im Zenit, machte sie sich

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