Wo bist du
sofortige Wiederaufnahme ihrer Stieftochter und eine Entschuldigung derer, die sie beleidigt hatte. Nie wieder wurde Lisa beschimpft, und Thomas lief mehrere Tage stolz mit seiner geschwollenen, bläulich verfärbten Lippe herum.
Im Januar feierte Lisa ihren elften Geburtstag. Nur zwei ihrer Klassenkameradinnen waren der Einladung zu einem Fest gefolgt, das Mary organisiert hatte. Abends aß die Familie die Reste des kaum angerührten Buffets. Lisa verließ ihr Zimmer nicht. Nachdem sie die Küche aufgeräumt und die Girlanden im Wohnzimmer abgenommen hatte, ging Mary mit einem Teller zu ihr. Sie setzte sich ans Fußende des Bettes und erklärte ihr, dass sie sich in der Schule kontaktfreudiger zeigen müsse, wenn sie Freundinnen finden wollte.
Die ersten Frühlingstage hatten die Sonne mitgebracht, doch die Luft war morgens noch eisig. An einem Spätnachmittag saß Mary mit Joanne beim Tee im Wohnzimmer, als Lisa von der Schule heimkam. Sie schlug die Eingangstür zu, murmelte »guten Tag« und wollte in ihr Zimmer gehen. Auf der sechsten Stufe wurde sie von Marys energischer Stimme zurückgehalten. Sie drehte sich um und zeigte so ihre dreckbespritzten Hosenbeine, die perfekt zu ihrem schlammverschmierten Gesicht passten. Der Zustand der Schuhe unterschied sich in nichts von dem der restlichen Kleidung.
»Badest du neuerdings in matschigen Pfützen, oder warum kommst du jeden Tag in einem solchen Zustand nach Hause? Soll ich einen Waschsalon kaufen?«, fragte Mary verärgert.
»Ich wollte mich gerade umziehen«, antwortete Lisa ungeduldig.
»Ich sage es dir heute zum letzten Mal«, schrie Mary, als Lisa auf der obersten Stufe verschwand. »Und du kommst gleich wieder runter und machst dir ein Sandwich. Ich kann nicht dulden, dass du nichts isst! Hast du mich verstanden?«
Ein träges »ja«, gefolgt vom Schlagen der Tür, war vom Ende des Flurs zu hören. Mary setzte sich wieder zu ihrer Freundin und seufzte tief. Joanne, wie immer äußerst gepflegt und strahlend in ihrem beigefarbenen Kostüm, strich vorsichtig mit der Hand über ihr Haar, um sich zu vergewissern, dass es nicht in Unordnung geraten war, und lächelte wohlwollend.
»Das ist bestimmt nicht immer leicht, du tust mir richtig Leid«, sagte sie.
»Ja, und wenn ich mit ihr fertig bin, ist Thomas dran, der sie in allem imitiert.«
»Mit ihr muss es besonders schwierig sein.«
»Warum?«
»Na, du weißt schon, was ich meine, wir reden in der Stadt alle darüber, und wir bewundern dich sehr.«
»Wovon sprichst du, Joanne?«
»Ein pubertierendes Mädchen ist immer schwierig für die Mutter, aber Lisa kommt noch dazu aus einem anderen Land, sie ist nicht wie die anderen. Die Unterschiede zu ignorieren und sie zu zähmen, wie du es machst, zeugt von einer bewundernswerten Großzügigkeit für eine Stiefmutter.«
Die Bemerkung hallte in Marys Kopf wider, als wäre ein Hammer auf ihren Schädel niedergegangen.
»Das heißt, die Beziehung zwischen Lisa und mir ist schon Stadtgespräch?«
»Natürlich sprechen wir darüber, eine Geschichte wie die deine kommt nicht alle Tage vor - Gott sei Dank für uns! Entschuldige diese Bemerkung, das war nicht gerade taktvoll von mir. Nein, was ich meine, ist, dass wir mit dir fühlen, das ist alles.«
Schon bei den ersten Worten spürte Mary Ärger in sich aufsteigen, der sich in dumpfe Wut verwandelte. Sie kochte innerlich. Ihr Gesicht kam dem ihrer Freundin so nahe, dass es fast bedrohlich wirkte:
»Und wo bekundet ihr euer Mitgefühl? Beim Friseur? Im Wartezimmer des Gynäkologen, bei der Diätberaterin oder auf der Couch des Psychiaters? Vielleicht besser noch auf dem Massagetisch, während ihr euch durchkneten lasst. Sag es mir, ich möchte es wissen, wann ist eure Langeweile so groß, dass ihr mit mir fühlt? Ich wusste, dass euer Leben sterbenslangweilig ist und dass die Zeit die Dinge nicht besser macht, aber dass es so schnell so schlimm werden würde!» Joanna wich zurück und sank noch tiefer in das Sofa.
»Rege dich doch nicht auf, Mary, das ist lächerlich, es war nichts Böses an dem, was ich gesagt habe, du hast alles falsch verstanden. Im Gegenteil, ich spreche nur von der Zuneigung, die wir für dich empfinden.«
Mary stand auf, packte Joanne beim Arm und zwang sie, sich ebenfalls zu erheben.
»Weißt du, Joanne, du kannst mich mal mit deiner Zuneigung, und um dir nichts zu verheimlichen, ihr könnt mich alle mal, aber du, die Präsidentin der Clubs der Frustrierten, ganz besonders. Hör
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