Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
als sich ihre Angelschnur zum vierten Mal verhedderte, wenigstens so zu tun, als würde es ihr Freude machen. Er erinnerte sie daran, dass sie sich das Angeln für ihre gemeinsame Reise ausgesucht hatte. Mit einem trockenen Zungenschnalzen entgegnete sie: »Am Meer!«, und fügte sogleich hinzu: »Nicht an einem See!« Sie ließ ihren Schwimmer im Wasser treiben und betrachtete die kleinen Wellen, die offenbar alle an dem Pfeiler zusammenlaufen wollten.
    »Erzähl mir von dort.«
    »Was soll ich dir erzählen?«
    »Wie du dort gelebt hast.«
    Sie zögerte einen Moment und antwortete dann sanft: »Mit Mum.« Dann schwieg sie. Philip biss sich auf die Unterlippe. Er legte die Angel beiseite und setzte sich neben sie, um sie in den Arm zu nehmen.
    »Meine Frage war nicht gerade sehr intelligent, tut mir Leid, Lisa.« »Doch, denn du wolltest ja, dass ich dir von ihr erzähle! Willst du wissen, ob sie von dir gesprochen hat? Nie! Sie hat nie von dir gesprochen!«
    »Warum bist du so boshaft?«
    »Ich will nach Hause! Ich liebe euch nicht genug!«
    »Lass uns Zeit, nur ein wenig Zeit ...«
    »Mum sagt, die Liebe kommt sofort oder nie.«
    »Deine Mutter war recht allein mit ihren spontanen Entscheidungen!«
    Am nächsten Tag biss an ihrer Angel ein Fisch an, der so groß war, dass er sie fast ins Wasser gezogen hätte. Aufgeregt legte Philip die Arme um sie, um die Beute zu sichern. Nach einem heftigen Kampf zogen sie ein dickes Paket Algen an Land. Philip betrachtete es enttäuscht, doch dann bemerkte er, wie sich Lisas Züge erhellten. Und sogleich offenbarte sich einer der Vorzüge der Kindheit: Auf dem Steg ertönte helles Lachen.
    Manchmal hatte sie nachts Albträume, dann nahm er sie in die Arme und wiegte sie. Und während er ihr so friedliche Nächte schenkte, dachte er an jene Albträume, die ihn noch als Erwachsener heimsuchten. Gewisse Wunden der Kindheit verheilen nie. Sie geraten in Vergessenheit, um uns erwachsen werden zu lassen und dann umso heftiger wieder aufzureißen.
    Nach einer Woche machten sie sich wieder auf den Heimweg. Thomas freute sich über Lisas Rückkehr und wich nicht mehr von ihrer Seite. Sobald sich Lisa in ihr Zimmer zurückzog, gesellte er sich zu ihr. Er setzte sich am Fenster auf den Fußboden, denn er wusste, dass er nur bleiben durfte, wenn er sich nicht bemerkbar machte. Von Zeit zu Zeit warf sie ihm einen gerührten Blick zu und vertiefte sich dann wieder in ihre Gedanken. Wenn sie gute Laune hatte, durfte er sich zu ihr aufs Bett setzen, und sie erzählte ihm Geschichten aus einer anderen Welt, in der Gewitter Angst machen und der Wind Staub aufwirbelt, der sich mit den Kiefernnadeln vermischt.
    Der Sommer verging. Lisa wiederholte die Klasse, und der Schulanfang war der Beginn einer düsteren Jugend. Sie hatte wenig oder gar keinen Kontakt zu ihren Klassenkameraden, die für ihren Geschmack zu jung waren. Da sie meist in ihre Bücher, die sie selbst aussuchte, vertieft war, spürte sie gar nicht, wie einsam sie war.
    Eines Tages im Dezember hörte Thomas, wie ein Mädchen seine Schwester als dreckige »Ausländerin« beschimpfte, und versetzte ihr daraufhin einen heftigen Tritt vors Schienbein. Das Mädchen nahm seine Verfolgung auf, jagte ihn durch die Gänge der Schule und warf ihn zu Boden. Bei dem Sturz platzte seine Oberlippe auf, Blut lief über sein Kinn. Lisa kam herbeigelaufen, und als sie ihn so daliegen sah, packte sie das Mädchen, das sie beleidigt hatte, grob bei den Haaren, drückte sie an die Wand und versetzte ihr einen Fausthieb von unkontrollierter Wucht. Das Mädchen drehte sich einmal um die eigene Achse und sank mit blutender Nase zu Boden. Thomas rappelte sich entsetzt auf, er erkannte Lisas Gesicht nicht wieder. Sie stieß eine Reihe von Drohungen auf Spanisch aus und würgte ihr Opfer. Thomas stürzte sich auf Lisa und flehte sie an, den Griff zu lockern. Bebend vor Wut, ließ Lisa schließlich von dem Mädchen ab, versetzte ihr einen letzten Fußtritt und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie wurde vierzehn Tage von der Schule verwiesen und bekam Stubenarrest. Ihre Tür blieb geschlossen, und sie ließ nicht einmal Thomas herein, wenn er ihr Obst bringen wollte. Zum ersten Mal war es Mary, die den häuslichen Frieden wiederherstellte. Mit journalistischem Gespür gelang es ihr, das Schweigen ihres Sohnes zu brechen, und er erzählte ihr die ganze Geschichte. Am nächsten Tag machte sie einen Termin mit der Schulleitung aus und verlangte die

Weitere Kostenlose Bücher