Wo bist du
um Kuwait zu befreien. Zwei Tage später schloss die Eastern Airlines ihre Tore, die Fluggesellschaft beförderte keine Passagiere mehr nach Miami und auch an keinen anderen Ort. Einhundert Stunden nach Beginn der Bodenkämpfe stellten die alliierten Armeen die Feindseligkeiten ein. Einhundertfünfzig amerikanische Soldaten, achtzehn britische, zehn ägyptische, acht aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und zwei französische waren getötet worden. Der technologische Krieg hatte hunderttausend irakischen Militärs und Zivilisten das Leben gekostet. Ende April schnitt Lisa einen Artikel aus der New York Times aus, den sie fast auswendig lernte und in ein großes Album klebte. Er berichtete von einem Wirbelsturm, der die Küste von Bangladesch verwüstet und fünfundzwanzigtausend Menschen getötet hatte. Im späten Frühjahr wurde Lisa von einem Streifenwagen der städtischen
Polizei nach Hause gebracht. Sie war dabei ertappt worden, wie sie eine Fahne auf einen Baumstamm hinter dem Bahnhof malte. Philip konnte eine Anzeige verhindern, indem er den Polizisten anhand eines Lexikons nachwies, dass es sich nicht um die irakische, sondern um die honduranische Flagge handelte. Lisa bekam das Wochenende über Stubenarrest, und Mary beschlagnahmte für einen Monat ihren Malkasten.
Das Jahr 1991 schmückte sich mit der Erfüllung der demokratischen Hoffnungen, deren Entstehung es erlebt hatte. Am siebzehnten Juni wurden in Südafrika die Apartheidsgesetze abgeschafft, am fünfzehnten läutete die Wahl von Boris Jelzin zum Präsidenten der russischen Föderation das Ende der UdSSR-Ära ein. Im November kündigten die ersten Kämpfe der siebenhundert jugoslawischen Panzer, die Vukovar, Osijek und Vinkovci einschlossen, den Anfang eines neuen Krieges an, der bald das Herz Europas erschüttern sollte.
Das Jahr 1992 begann mit einem eisigen Winter. In wenigen Wochen würde Lisa dreizehn Jahre alt werden. Von den Hügeln von Montclair aus sah man über das in einen grau-weißen Mantel gehüllte New York. Philip hatte die Lichter in seinem Arbeitszimmer gelöscht und sich zu seiner Frau gelegt, die schon zu schlafen schien. Schüchtern strich seine Hand über ihren Rücken, bevor er sich umdrehte.
»Dein Blick fehlt mir«, sagte sie ins Dunkel hinein. Sie schwieg eine Weile und beschloss dann, sich ihm in dieser Januarnacht anzuvertrauen: »Ich sehe, wie deine Augen leuchten, wenn du Lisa ansiehst. Wenn du doch nur ein Viertel dieses Strahlens für mich übrig hättest! Seit Susans Tod ist dein Blick auf mich erloschen, mit ihr ist etwas in deinem Inneren gestorben, das ich nicht wieder zum Leben erwecken kann.«
»Du irrst dich. Ich gebe mir alle Mühe, aber es ist nicht immer einfach, und ich bin nicht vollkommen.« »Ich kann dir nicht helfen, Philip, denn die Tür ist verschlossen. Zählt die Vergangenheit für dich so viel mehr als die Gegenwart und die Zukunft? Es ist so einfach, aus Nostalgie zu verzichten. Welch erhabener passiver Schmerz, welch bewundernswerter, langsamer Tod, aber dennoch ein Tod. Als wir uns kennen lernten, hast du von deinen Träumen erzählt, von deinen Sehnsüchten, ich glaubte, du hättest mich gerufen, und ich bin gekommen, aber jetzt bist du Gefangener deiner Fantasiewelt, und ich habe den Eindruck, aus meinem eigenen Leben vertrieben worden zu sein. Ich habe dich niemandem weggenommen, Philip; du warst allein, als ich dich kennen lernte, erinnerst du dich?«
»Warum sagst du das?«
»Weil du aufgibst, und zwar nicht meinetwegen.«
»Warum willst du dich Lisa nicht nähern?«
»Dazu gehören immer zwei, und sie möchte es auch nicht. Für dich ist die Sache einfach, der Platz des Vaters war frei.«
»Aber in ihrem Herzen ist aller Platz der Welt.«
»Das sagst gerade du? Du, der du all meiner Liebe zum Trotz keinen Platz in deinem Herzen zu machen wusstest!«
»Bereite ich dir so viel Kummer?«
»Noch viel mehr, Philip. Es gibt keine schlimmere Einsamkeit als die, die man zu zweit empfindet. Ich wollte gehen, obwohl ich dich liebe. Welch ungeheurer Widerspruch, welch eine Demütigung. Aber weil ich dich liebe, bin ich noch da, und du siehst mich nicht, du siehst nur dich, deinen Schmerz, deine Zweifel, deine Ungewissheit. Und obwohl du nicht mehr liebenswert bist, liebe ich dich.«
»Du wolltest mich verlassen?«
»Jeden Morgen beim Aufstehen, wenn unser Tag beginnt, denke ich daran. Wenn ich sehe, wie du, in dein Schweigen und deiner Zurückgezogenheit eingemauert, deinen Kaffee
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