Wo bist du
wieder aufzunehmen. Sie hatte einige Chroniken verfasst, »nur zum Spaß«, und aus Neugier aß sie mit dem neuen Chefredakteur der Montclair Times zu Mittag, den sie noch von der Uni her kannte. Zu ihrer großen Überraschung schlug er ihr vor, ihm die Texte zu schicken. Wahrscheinlich würde sie etwas Zeit brauchen, um ihre Feder wieder in Schwung zu bringen, aber er würde ihr beim Thema freie Wahl lassen. Bevor sie sich verabschiedeten, versprach er, ihr im Rahmen seiner Möglichkeiten zu helfen, wenn sie ihren Beruf wirklich wieder aufnehmen wollte. »Warum eigentlich nicht?«, hatte sie sich auf dem Heimweg gesagt.
Philip saß an seinem Schreibtisch und sah durchs Fenster die Maisonne untergehen. Mary, die eben aus der städtischen Bibliothek zurückkam, ging in sein Arbeitszimmer hinauf.
Als sie eintrat, hob er den Blick, lächelte ihr zu und wartete, was sie zu sagen hatte.
»Glaubst du, dass man mit vierzig Jahren noch das Glück finden kann?«
»Man kann sich dessen zumindest bewusst werden.«
»Können sich die Dinge im Leben so spät noch verändern, kann man sich selbst noch verändern?«
»Man kann bereit sein, reif zu werden und die Dinge anzunehmen, statt gegen sie zu kämpfen.«
»Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, dass du mir ganz nah bist, Philip, und das macht mich glücklich.« In diesem Frühjahr 1995 wusste Mary, dass das Glück in ihrem Haus Einzug gehalten hatte und dass es lange bleiben würde.
Sie räumte Lisas Zimmer auf, und da es schon warm war, beschloss sie, die Matratze auf die Sommerseite umzudrehen. Dabei fand sie das dicke Album mit dem schwarzen Einband. Sie zögerte, setzte sich an den Schreibtisch und begann, es durchzublättern. Auf der ersten Seite zeigte ein Aquarell die honduranische Flagge. Mit jeder Seite schnürte sich Marys Kehle mehr zusammen. Alle Zeitungsartikel, die in den letzten Jahren über Wirbelstürme irgendwo auf der Welt erschienen waren, hatte sie ausgeschnitten und in dieses geheime Album geklebt; alles, was irgendwie mit Honduras zu tun hatte, war nach Datum geordnet. Es war wie das Bordtagebuch eines Seemanns, der seine Heimat verlassen hat und nachts von den Tagen träumt, an denen er, wieder daheim, seinen Lieben von seiner unglaublichen Reise berichten würde.
Mary schloss das Heft und legte es an seinen Platz zurück. Eine Zeit lang behielt sie das Geheimnis von ihrem Fund für sich. Obwohl die Familie merkte, dass sich ihre Stimmung verändert hatte, ahnte doch niemand, dass ein Herz innerhalb weniger Sekunden verdorren kann.
Schon zum vierten Mal seit Anfang des Sommers fragte sie Philip, wie man Lisas neunzehnten Geburtstag wohl am besten feiern könnte. Jedes Mal antwortete er belustigt, dass sie noch zwei Jahre Zeit hätten, um sich darüber Gedanken zu machen, und sie gab verärgert zurück, die Zeit vergehe manchmal schneller, als man denke.
An diesem Vormittag nach dem Frühstück hatte Lisa Thomas zum Baseballclub begleitet, und Mary kam wieder auf das Thema zu sprechen.
»Was hast du nur, Mary?«, fragte Philip.
»Nichts, ich bin nur ein bisschen müde, das ist alles.«
»Du bist nie müde, gibt es irgendetwas, das du mir verheimlichst?« »Das ist das Alter, was willst du, die Müdigkeit musste ja eines Tages kommen.«
»In dreißig oder vierzig Jahren könnte das vielleicht zutreffen, aber jetzt nehme ich dir das nicht ab. Sag mir ehrlich, was los ist.«
»Komm mit, ich will dir etwas zeigen!«
Sie zog ihn in Lisas Zimmer und griff unter die Matratze. Nun blätterte auch er sorgfältig das Album durch.
»Ein hervorragendes Layout, sie hat wirklich Sinn für Grafik. Glaubst du, dass meine Arbeit sie beeinflusst hat?«
Mary biss die Zähne zusammen, um die aufsteigenden Tränen der Wut niederzukämpfen.
»Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Ganze Seiten über Wirbelstürme und über Honduras, und du interessierst dich nur für ihre grafischen Fähigkeiten!«
»So beruhige dich doch, was regst du dich so auf?«
»Merkst du denn nicht, dass sie an nichts anderes denkt? Dass sie von diesem verdammten Land und den verfluchten Stürmen besessen ist! Ich dachte, es wäre mir gelungen, ihr andere Dinge beizubringen, ihren Geschmack am Leben zu wecken. Die Zeit wird so schnell vergehen, nicht mal mehr drei Jahre.«
»Aber wovon redest du denn?«
Da sie nicht antwortete, ergriff Philip ihre Hand, und zwang sie, sich auf seinen Schoß zu setzen. Er nahm sie in die Arme und sprach mit ruhiger, sanfter
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