Wo bist du
Fenster drang, bereits warm. Sie schaltete das Radio ein und bemerkte plötzlich, dass sie laut sang.
Um elf Uhr landete die Maschine auf dem internationalen Flughafen von Miami. Da sie kein Gepäck hatte, konnte sie den Terminal schnell verlassen. In ihrem Mietwagen breitete sie auf dem Beifahrersitz die Karte aus, schlug die Richtung Virginia Gardens ein, bog nach links ab auf den Highway 826, dann nach rechts Richtung Flagami West Miami und wieder links in die 117th Avenue. Die Wegbeschreibung, die man ihr gegeben hatte, war gut, und kurz darauf entdeckte sie zu ihrer Linken das Gebäude der NHC. Nachdem sie beim Pförtner am Eingang des Campus vorgesprochen hatte, stellte sie den Wagen auf dem Parkplatz ab und ging durch die Allee, die am Garten entlangführte. Das National Hurricane Center war ein weißes Betongebäude, das wie ein moderner Bunker wirkte.
»Genau das wollten wir auch! Sicher, wenn man in Miami arbeitet, träumt man eher von großen Fensterfronten, um die zauberhafte Landschaft genießen zu können. Doch bei unserem Wissen und bei unserer Arbeit ist uns ein Gebäude lieber, das den Hurrikans standhält, auch wenn das Abstriche bei der Architektur bedeuten mag. Mit dieser Wahl kommen wir hier alle recht gut zurecht.«
»Ist so ein Wirbelsturm denn wirklich so schrecklich?» »Ebenso schlimm wie Hiroshima und Nagasaki.«
Professor Hebert hatte sie in der Eingangshalle abgeholt und führte sie zu seinem Büro im gegenüberliegenden Flügel. Er wollte ihr, bevor die eigentliche Unterredung begann, etwas zeigen. Die fehlenden Fenster vermittelten Mary den Eindruck, sich in den Gängen eines Kriegsschiffs zu bewegen, und sie fragte sich, ob man hier nicht etwas übertrieben hatte. Er öffnete die Tür zu einem Ausstellungsraum. Die linke Wand war mit Bildern bedeckt, die Aufklärungsflugzeuge des NHC aufgenommen hatten. Die Fotos von den Wirbelstürmen zeigten ebenso erschreckende wie majestätische Wolkenmassen, die sich aufzurollen schienen und in deren Mitte ein Loch mit blauem Himmel, das auch als »Auge des Teufels« bezeichnet wurde, zu sehen war. »Von oben betrachtet, ist ein solches Gebilde fast schön, nicht wahr?» Heberts Worte hallten in der großen, leeren Halle wider. Sein Tonfall hatte sich verändert, war ernster geworden und klang fast schulmeisterlich.
»Die Fotos an der rechten Wand bringen uns sozusagen auf den Boden der Tatsachen zurück, denn sie zeigen, was unten geschieht. Sie erinnern uns alle daran, wie wichtig unsere Aufgabe ist. Sehen Sie sich diese Bilder so lange an, bis Sie verstanden haben, worüber wir sprechen. Jedes einzelne Foto zeugt von der zerstörerischen, mörderischen Kraft dieser Monster. Hunderte, ja Tausende von Toten, manchmal auch mehr, verwüstete Regionen, zerstörtes Leben.«
Mary war näher an eines der Fotos getreten.
»Der, den Sie da gerade betrachten, trug den Namen Fifi, ein eigenartiger Spitzname für einen Mörder dieses Kalibers. Er ist 1974 über Honduras hinweggefegt, hat fast das ganze Land verwüstet, unendliche Verzweiflung und Hunderttausende von Obdachlosen hinterlassen. Versuchen Sie, sich kurz den albtraumartigen Anblick von zehntausend Kinder-, Frauen- und Männerleichen vorzustellen. Die kleinen Fotos, die wir um die großen angeordnet haben, sind nur wenige Zeugnisse dessen, was ich Ihnen gerade beschrieben habe. Wir haben eine Auswahl getroffen, und dennoch sind sie unerträglich.« Schweigend ging Mary einige Meter weiter: Hebert deutete auf eine andere Wand.
»Das war 1989. Allison, Barry, Chantal, Dean, Erin, Felix, Gabrielle, Iris, Jerry und Karen waren nur einige der Mörder dieser Jahre, nicht zu vergessen Hugo, der mit einer Geschwindigkeit von mehr als zweihundertzwanzig Kilometern pro Stunde Charleston und einen Teil von South Carolina verwüstet hat. In Ihrem Brief sprachen Sie wahrscheinlich von Gilbert, der im Jahr 1988 dreizehn Tage lang gewütet hat, eine Windstärke von etwa dreihundert Kilometern pro Stunde erreichte, und die Regenfälle, die seiner Entstehung vorausgingen, waren mörderisch; für Honduras haben wir allerdings keine Zahlen, ich habe nachgesehen. Ich will mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angehen, aber möchten Sie wirklich, dass Ihre Tochter diese Bilder sieht?«
»Dieser Gilbert oder einer seiner Brüder hat ihre Mutter umgebracht. Lisa hat insgeheim eine regelrechte Neurose entwickelt, was Orkane betrifft.«
»Ein Grund mehr, dass ihr dieser Ort unerträglich sein
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