Wo bist du
wollte schlafen.
Mary setzte sich auf ihre Bettkante, streichelte lange ihr Haar und küsste sie auf die Stirn. Als sie das Zimmer verlassen wollte, hörte sie zum zweiten Mal an diesem Tag die Frage: »Was ist das Paradox?«
Sie hatte die Hand schon auf der Türklinke und lächelte, ein kleines Lächeln, das viel Gefühl verriet.
»Das Paradox ist, dass ich nie deine Mutter sein werde, aber dass du immer meine Tochter bist. Schlaf jetzt, alles ist gut.«
Kapitel 9
In diesem Jahr gab es kein Ferienlager. Philip, Mary, Lisa und Thomas mieteten wieder dasselbe Haus in den Hamptons. Während der Grillabende und Bootsfahrten hielten endlich Freude und Lachen in ihrem Leben Einzug, und sie kamen einander näher.
Gleich bei Schulbeginn zeigte Lisa ein völlig verändertes Verhalten, das sich im Zwischenzeugnis eindeutig widerspiegelte. Thomas ging ein wenig auf Abstand zu seiner Schwester, die Pubertät entfernte sie vorübergehend voneinander.
An Weihnachten machte Mary Lisa klar, dass das, was ihr gerade widerfuhr, völlig normal sei, dass dieses Blut keineswegs aus einem Kampf ihres Körpers gegen irgendetwas resultiere. Sie sei dabei, eine Frau zu werden, und das sei nicht einfach.
Im Januar organisierte Mary eine große Party, um Lisas Geburtstag zu feiern, und diesmal folgte die ganze Klasse der Einladung. Im Frühjahr vermutete Mary einen ersten Hirt in Lisas Leben und klärte sie ausgiebig über die Dinge des Lebens auf. Während Lisa den körperlichen Details wenig Bedeutung beimaß, lauschte sie umso aufmerksamer, wenn es um Gefühle ging. Die Kunst der Verführung faszinierte sie derart, dass sie zum Thema zahlreicher Gespräche zwischen Lisa und Mary wurde. Zum ersten Mal war es Lisa, die solche Gespräche anfing. Begierig auf Erklärungen, suchte sie Marys Gesellschaft, die sehr erfreut darüber war und nur sparsam Antwort gab, um Anlass für neue Diskussionen zu geben.
Die Schwermut, die Lisa vor den großen Ferien erfasste, verriet Mary, dass sie verliebt war. Die Sommermonate sind grauenvoll, wenn man in diesem Alter verliebt ist, und das Versprechen, sich zu schreiben, vermag nicht die Leere zu füllen, die man zum ersten Mal in seinem Leben erfährt.
Mary hatte Lisa von der Schule abgeholt, um den Nachmittag mit ihr in Manhattan zu verbringen. Sie saßen in dem kleinen Garten des
Restaurants Picasso im Village und aßen einen Caesar-Salat mit gebratenen Hühnerbrüstchen.
»Er fehlt dir also jetzt schon, obwohl ihr noch gar nicht getrennt seid?«, fragte Mary.
»Hast du so was auch erlebt?«
»Und ob!«
»Warum tut es so weh?«
»Weil lieben vor allem bedeutet, ein Risiko einzugehen. Es ist gefährlich, sich dem anderen hinzugeben, diese kleine Tür zu seinem Herzen zu öffnen. Das kann zu diesem unbeschreiblichen Schmerz führen, den du jetzt empfindest. Es kann sogar zu einer Art Besessenheit werden.«
»Ich denke an nichts anderes!«
»Und gegen diese Art Herzschmerz gibt es kein Heilmittel. Auf diese Art habe ich verstanden, dass jeder Zeitbegriff relativ ist. Ein Tag kann viel länger sein als ein ganzes Jahr, wenn einem ein anderer Mensch fehlt, aber das ist auch das Köstliche an der Sache. Man muss lernen, seine Gefühle zu bezähmen.«
»Ich habe solche Angst, ihn zu verlieren, Angst, dass er ein anderes Mädchen kennen lernt. Er fährt ins Ferienlager nach Kanada.«
»Ich kann deine Bedenken verstehen. Es ist zwar schlimm, aber in diesem Alter sind viele Jungen recht unbeständig.«
»Und später?«
»Bei einigen bessert es sich, zwar nur bei wenigen, aber immerhin!« »Wenn er mich betrügt, überlebe ich das nicht.«
»O doch, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Ich weiß, das ist in deiner Situation schwer zu glauben, aber man überlebt es tatsächlich!«
»Was muss man tun, damit sie sich verlieben?«
»Bei den Jungen kommen Zurückhaltung und Reserviertheit gut an -das Geheimnisvolle. Das macht sie ganz verrückt.«
»Das habe ich schon gemerkt!«
»Und wie hast du das gemerkt?«
»Zurückhaltung liegt in meinem Wesen.« »Und achte auf deinen Ruf, das ist für später wichtig, es kommt auf das Gleichgewicht an.«
»Das verstehe ich nicht!«
»Ich glaube, wenn dein Vater mich hören würde, würde er mich umbringen, aber du siehst so viel älter aus, als du bist.«
»Nun sag schon!«, beharrte Lisa voller Ungeduld.
»Wenn du den Kontakt mit Jungen meidest, giltst du als sonderbar, und sie schenken dir keinerlei Beachtung. Bist du aber zu viel mit ihnen
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