Wo bitte geht's nach Domodossola
gelacht, und mich während der gesamten Fahrt nicht aus den Augen ließ, als hätte sie mein Gesicht auf einem Fahndungsfoto gesehen, und ein pingeliger, älterer Mann, den ich für einen vor kurzem pensionierten Oberstudienrat hielt und der mir von vornherein unsympathisch war. Der junge Schwede saß auf dem für den Oberstudienrat reservierten Platz. Der Oberstudienrat forderte daraufhin den jungen Schweden nicht nur auf, diesen Platz zu räumen, sondern veranlaßte ihn außerdem, seine persönliche Habe aus der Gepäckablage über jenem Sitz auf die Gepäckablage des Nachbarsitzes zu schaffen. Das zeugt von einer gehörigen Portion Kleinkariertheit, wenn Sie mich fragen. Dann begann der Oberstudienrat, auf seinem Platz für Ordnung zu sorgen – er entnahm seinem Koffer eine zusammengefaltete Zeitung und eine kleine Tüte Pflaumen, verstaute den Koffer auf der Gepäckablage, untersuchte den Sitz eingehend auf etwaige Verunreinigungen, wischte mehrmals mit dem Handrücken darüber, faltete mit ritueller Sorgfalt seine Jacke und seinen Pullover zusammen, öffnete nach vorheriger Absprache mit der Dame, aber ohne sich an mich oder an den jungen Schweden zu wenden, ein wenig das Fenster, holte seinen Koffer nochmals herunter, um ihm erneut etwas zu entnehmen, verstaute ihn wieder und öffnete das Fenster anderthalb Zentimeter weiter. Jedesmal, wenn er sich vorbeugte, tauchte sein Arsch vor meiner Nase auf. Was hätte ich für eine Smith & Wesson gegeben! Und jedesmal, wenn ich mich umsah, blickte ich in das Gesicht dieser alten Schachtel, die mich mit Argusaugen beobachtete.
So verging der Vormittag.
Ich fiel in diesen sabbernden Halbschlaf, den ich mehr und mehr für eine Begleiterscheinung meines fortgeschrittenen Alters halte. Als ich wach wurde, stellte ich fest, daß meine Reisegefährten ebenfalls eingenickt waren. Der Oberstudienrat schnarchte mit weit offenem Mund. Ich bemerkte, daß mein hin und her schwingender Fuß an seiner marineblauen Hose einen staubigen Fleck hinterlassen hatte. Ich entdeckte außerdem, daß es mit vorsichtigen Bewegungen meines Fußes möglich war, diesen Fleck von seinem Knie bis fast zum Knöchel zu verlängern und so sein Hosenbein mit einem interessanten Streifen zu versehen. Auf diese Weise vertrieb ich mir ein Weilchen die Zeit, bis ich bei einem kurzen Seitenblick erkennen mußte, daß die Augen der alten Dame wieder auf mich gerichtet waren. Sofort gab ich vor zu schlafen. Ich wußte, wenn sie nur einen Laut von sich geben würde, müßte ich sie mit meiner Jacke ersticken. Aber sie sagte nichts.
Und so verging der Nachmittag. Seit der Kleinigkeit im Bistro am Abend zuvor hatte ich nichts mehr gegessen. Ich war so hungrig, daß ich mir fast alles einverleibt hätte, sogar den berühmten pürierten Schinken meiner Großmutter mitsamt ihrer gewürfelten Karotten – das einzige Gericht in der Geschichte der Kochkunst, dem Erbrochenes als Vorlage gedient hat. Am späten Nachmittag wurde ein quietschender Erfrischungswagen durch den Gang geschoben, und eine Welle fieberhafter Aufregung erfaßte unser Abteil. Jeder von uns zeigte ein eifriges Interesse für das Angebot an Erfrischungen. Ich besaß vierundzwanzig schwedische Kronen und hatte das für ein nettes Sümmchen gehalten. Wie sich herausstellen sollte, reichte dieser Betrag jedoch gerade, um ein bescheidenes halbes Brötchen zu erstehen, das mit einem kümmerlichen Salatblatt und acht Fleischklößchen, jedes etwa so groß wie eine Murmel, belegt war. Eine Mahlzeit in Schweden ist wirklich ein Trauerspiel.
Ich kaufte das halbe Brötchen und wickelte es vorsichtig aus seiner Cellophan-Hülle. Doch als ich gerade hineinbeißen wollte, ruckelte der Zug so erbarmungslos über ein paar Weichen, daß die Flaschen im Erfrischungswagen klapperten und all meine Fleischklößchen vom Brötchen sprangen, als wären es Matrosen, die von Bord eines brennenden Schiffes fliehen. Entsetzt sah ich zu, wie sie über den Boden kullerten und sich in acht ungenießbare Staubkugeln verwandelten. Ich hätte es kaum für möglich gehalten, aber die Dame in Schwarz schaffte es tatsächlich, mich mit einem noch verächtlicheren Blick zu strafen, und der Oberstudienrat nahm aus Angst, ein Kloß könnte einen seiner glänzenden Schuhe streifen, mit einem eleganten Schwung seine Füße beiseite. Nur der junge Schwede und der Begleiter des Erfrischungswagens zeigten Mitgefühl und deuteten hilfreich mit dem Finger auf die Klöße, während ich
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